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Sarah Wiener

APA/dpa/Arne Dedert

„Fleisch ist kein Menschenrecht“

Prekäre Arbeitsbedingungen, Massentierhaltung und Coronavirus-Hotspots. Die Fleischindustrie steht derzeit in heftiger Kritik. „Es gibt kein Grundrecht auf Fleisch“, sagt die grüne EU-Abgeordnete Sarah Wiener im Interview.

Von Ambra Schuster

FM4: Nach der deutschen Fleischfabrik Tönnies mit 1.500 Infizierten gibt es jetzt auch in oberösterreichischen Schlachthöfen Coronavirus-Fälle. Was läuft hier gerade falsch?

Sarah Wiener: Die aktuellen Coronavirus-Ausbrüche zeigen, dass das ganze Fleischsystem fehlerhaft und gesundheitsschädlich ist und reformiert gehört. Wir reden jetzt zwar von desaströsen Arbeitsbedingungen, aber kaum einer redet von den Tierschutzbedingungen.

FM4: Sie engagieren sich seit Jahren für das Tierwohl, jetzt geht’s aber um das Menschenwohl. Inwiefern hängt das zusammen?

Sarah Wiener: Das hängt ganz unmittelbar zusammen, weil wir Teil der Natur sind und nur gesund bleiben, wenn auch die Natur gesund bleibt. Das sieht man an den antibiotischen Resistenzen, die eine noch größere Bedrohung sind als Covid-19. Wenn man Lebewesen in Massen hält, dann ist das immer ein Infektionsherd und das hat dann immer Folgen für den Menschen.

„Wenn man Lebewesen in Massen hält, ist das immer ein Infektionsherd.“

FM4: Oft wird Massentierhaltung und Massenproduktion mit einer wachsenden Weltbevölkerung gerechtfertigt, die ernährt werden muss.

Sarah Wiener: Die Agroindustrie hat die Armen und Hungernden noch nie ernährt. Die Welt wird immer noch von Kleinbauern ernährt. Die Agroindustrie geht nämlich nur dorthin, wo das Bruttosozialprodukt eine bestimmte Höhe erreicht hat und man Geld verdienen kann. Das System zerstört durch seine Konzentration und Monopolisierung, im Gegenteil, sogar die Vielfalt und die regionalen Strukturen und die Kleinbauern und, nicht zu vergessen, den Geschmack.

FM4: Radikalere Stimmen sagen, dass man Fleisch einfach verbieten soll. Warum halten Sie davon nichts?

Sarah Wiener: Ich halte nichts von Verboten, außer wenn es kriminell wird oder wenn es zum Beispiel um eine Qualzucht geht. 30 bis 40 Prozent der gesamten Bodens auf der Welt ist nur für Weidetiere geeignet, weil das Steppen sind oder Steilhänge. Da können die Wiederkäuer etwas, das wir nicht können: Gras in tierische Proteine, in Milch, in Butter, in Fleisch verwandeln. Will man das jetzt nicht nutzen, obwohl wir ein Überbevölkerungsproblem haben? Es geht doch darum, das Tierleid abzuschaffen, nicht die Tiere.

„Es geht darum, das Tierleid abzuschaffen, nicht die Tiere.“

FM4: Also sind Veganer*innen zu radikal?

Sarah Wiener: Ich habe einige Freund*innen, die keine tierischen Produkte essen und damit ein gutes Beispiel sind durch ihren Lebenswandel. Und dann gibt es eben auch radikale Menschen, die denken, Lösungen seien simpel. Nach dem Motto: „Wir schaffen jetzt alle Tiere ab und dann haben wir keine Probleme mehr und wir essen dann alle Fake-Fleisch.“

FM4: Was sagen Sie zu Fleischersatzprodukten?

Sarah Wiener: Das ist wirklich ein Albtraum und tut uns auch nicht gut. Wir sollten natürlich essen. Was brauch ich da industrielle Fake-Produkte, die mein Körper nicht einmal als essbar erkennt. Wer verdient denn daran? Die Ressourcenvernichtung, die dahintersteht, ist ja wieder eine Abhängigkeit. Ein revolutionärer Akt wäre es, selber zu kochen mit frischen Grundzutaten. Und das ganze Tier zu verwerten und in Summe weniger Fleisch zu essen.

„Fleischersatzprodukte sind ein Albtraum.“

FM4: Das wird von selber nicht passieren. Was soll der Hebel sein, um zu bewirken, dass Menschen weniger Fleisch essen?

Sarah Wiener: Zum einen glaube ich, braucht es eine Transparenz. Die Leute haben verdient zu wissen, wie es im Fleischsystem und in der Tierhaltung abläuft. Ich glaube nicht, dass jemand sagt, „ja, kastrier einfach Millionen Schweine ohne Betäubung oder halte bitte die Säue so, dass sie nicht einmal ihre Füße ausstrecken können in einem Käfig“, nur damit das Fleisch zwei Euro billiger ist. Dieses System hat sich selber befeuert in einem unglaublichen Konkurrenzkampf. Und zum anderen denke ich, müssen wir den wahren Preis einfach ausrufen. Jeder kann essen, soviel er mag, aber soll dann bitte auch den Preis dafür zahlen.

FM4: Das heißt, Fleisch muss teurer werden.

Sarah Wiener: Fleisch wird teurer werden und muss auch teurer werden, weil es lügt und weil es die gesamte Wertschöpfungskette und den Menschen und die Tiere und die Natur ausbeutet.

FM4: Sobald jemand sagt, Fleisch muss teurer werden, kommt der soziale Beigeschmack. Schließlich soll sich auch die Großfamilie das in Österreich sehr heilige Schnitzel leisten können.

Sarah Wiener: Man kann die ökologische Frage nicht mit der sozialen vermischen. Für beides muss gesorgt werden. Aber solange nur noch die Edelstücke gegessen werden, solange wir bis zu 50 Prozent weltweit von Lebensmitteln in die Tonne treten, solange ein Kilogramm Fleisch oft billiger ist als eine Kinokarte oder eine Parkstunde in München Mitte, streite ich mich doch nicht darum, ob der Fleischpreis zu teuer ist. Das ist absurd. Außerdem ist Fleisch kein Menschenrecht. Und den eigenen Körper zum Endlager für Schadstoffe und für das Leid anderer Lebewesen zu machen, ist unappetitlich und nicht die Lösung.

„Man kann die ökologische Frage nicht mit der sozialen vermischen.“

FM4: Sie betreiben selbst eine große Landwirtschaft. Wie viel müsste zum Beispiel ein Huhn kosten, damit es dem entspricht, was es wirklich wert ist?

Sarah Wiener: Das kann man schwer sagen, hier spielen viele Faktoren mit. Aber alles, was beim Huhn unter 15 Euro ist, finde ich eine Schande.

Sarah Wiener

Radio FM4 | Ambra Schuster

FM4: Um den Preis zu verändern, muss sich auf politischer Ebene etwas tun. Sie sitzen für die österreichischen Grünen im EU-Parlament. Was tun Sie konkret gegen Massentierhaltung?

Sarah Wiener: Ich habe viele Themen, an denen ich kämpfe und die sind eigentlich alle mit Tieren verbunden. Mein großes Thema in den nächsten Monaten und Jahren ist zum Beispiel, minimale europaweite Haltungsbedingungen für die Pute und das Kaninchen durchzusetzen. Überhaupt beschäftige ich mich mit dem agroindustriellen System, das dringend reformiert gehört. Dazu gehört in erster Linie auch eine andere Art von Subvention. Nicht nur Fläche soll subventioniert werden, wie das derzeit der Fall ist, sondern es soll Subvention für eine nachhaltige Landwirtschaft geben.

FM4: Die Landwirtschaftsindustrie ist nicht nur auf EU-Ebene sehr von Lobbys gesteuert. Wie realistisch ist es, dass sich tatsächlich etwas ändert?

Sarah Wiener: Das ist ein guter Punkt. Ohne die Hilfe von außen, ohne die Zivilgesellschaft, die Wähler*innen, ohne NGOs wird das nicht gehen. Ich verbinde mich derzeit auch mit Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen. Es gibt sehr viel wissenschaftliche Forschung, die den Standpunkt unterstreicht, dass dieses System keine Zukunft hat. Die Fleischindustrie ist an die Wand gefahren.

FM4: Tun die österreichischen Grünen genug für das Tierwohl?

Sarah Wiener: Ich habe grüne Werte, die teile ich mit der grünen Familie. Ich weiß, dass auch gerade an einigen Themen sehr hart gestritten und gekämpft wird.

FM4: An welchen?

Sarah Wiener: Zum Beispiel bei der Kennzeichnungspflicht in der Gastronomie. Sie wäre eine Grundvoraussetzung, dass wir überhaupt eine Wahl haben, wenn wir wissen, was uns da serviert wird.

FM4: Und da gibt es interne Konflikte bei den Grünen?

Sarah Wiener: Ja, die gibt es. Denn wie bei sehr vielen Themen, wo die Lobby groß ist, gibt es starke Tendenzen, Dinge so belassen zu wollen, wie sie sind. Ich verstehe natürlich, dass sich kleine Gastronomen beschweren, diesen Aufwand auch noch betreiben zu müssen. Aber auf der anderen Seite ist es nicht so viel Aufwand, wenn man weiß, woher das Essen kommt. Ich finde, als Köchin kann ich doch nicht etwas zubereiten und dann meinem Gast sagen, ich weiß nicht, woher es kommt, und er soll es doch einfach essen.

„Ernährung wird missbraucht als Belohnung, Bestrafung und Statussymbol.“

FM4: Es ist ein gewisses Privileg, überhaupt über Ernährung sprechen zu können. Warum ist Ernährung so ein emotionales Thema?

Sarah Wiener: Ich glaube, Ernährung ist ein Platzhalter geworden für eine Ersatzreligion. In unseren Breitengraden herrscht so ein Überfluss, dass wir uns abgrenzen können mit unserem Ernährungsverhalten. Da wird Ernährung als Belohnung, als Bestrafung, als Statussymbol extrem missbraucht. Deswegen sollten wir uns wieder befreien davon und erst einmal die natürlichen Lebensmittel wieder ehren und alles essen. Und dann haben wir auch wieder mehr Spaß und werden vielleicht auch wieder großzügiger und netter zueinander sein, anstatt uns gegenseitig eine in die Goschn zu hauen mit unseren Ernährungsstilen.

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