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Volkertplatz: Menschen sitzen auf Bänken

DnD Landschaftsplanung / R. Barthofer

interview

Wie sich das Wohnen in Wien verändert

Wohnen wird in europäischen Großstädten immer teurer und da ist Wien keine Ausnahme. Die Wienerinnen und Wiener geben im Schnitt zwischen 20 und 30 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus, und 30 Prozent gelten als heikle Grenze, ab der Wohnen oft nicht mehr leistbar ist. Der Stadtsoziologe Christoph Reinprecht im Interview über Gentrifizierung, Stadtleben und sozialen Wohnbau in Wien.

Von Sophie Liebhart

Wien wächst. In den letzten 10 Jahren durchschnittlich um rund 20.000 Menschen jährlich. In den vergangenen Jahren hat Österreichs Hauptstadt damit Hamburg, Warschau, Budapest und Bukarest einwohnermäßig überholt und ist nun die sechstgrößte Stadt der EU. Stadtplanerisch ist das eine Herausforderung.

Anders als andere Großstädte hat Wien nach wie vor viele unverbaute Flächen und eine vergleichsweise geringe Einwohnerdichte. Und auch der Anteil von sozialem Wohnbau in Wien ist bedeutend. Neu gebaut wird hauptsächlich am Stadtrand. In der Seestadt Aspern und am ehemaligen Nordbahnhof, aber auch rund um den Hauptbahnhof entstehen neue Stadtteile und somit neuer Wohnraum.

Je zentraler, desto teurer ist das Wohnen. Ein Phänomen dabei ist die sogenannte Gentrifizierung. Diese wird oft als Zuzug von wohlhabenderen Schichten und damit einhergehend als die Verdrängung der bislang ansässigen Bevölkerung beschrieben. In Wien gibt es dabei aber besondere Dynamiken. Wir haben den Stadtsoziologen Christoph Reinprecht im Wiener Volkertviertel im 2. Bezirk zum Interview getroffen, um mit ihm über Gentrifizierung und die Leistbarkeit von Wohnen in der Stadt zu sprechen.

FM4: Wir haben uns hier am Wiener Volkertplatz getroffen, weil Sie gemeint haben, diese Gegend eignet sich gut, um über Gentrifizierung in Wien zu sprechen. Warum?

Stadtsoziologe Christoph Reinprecht

Universität Wien

Christoph Reinprecht: Das Volkertviertel ist ein Gebiet, das sehr lange eine Art Schattendasein geführt hat und wo man in letzter Zeit beobachten kann, dass es Aufwertungsprozesse gibt, die in sehr spezieller Weise stattfinden. Das Spannende ist, dass es ein vielleicht untypisches Gebiet ist für Gentrifizierung. In Wien würde man sagen, ein typisches Viertel für Gentrifizierung ist der Karmelitermarkt, der Kutschkermarkt, sicher das Brunnenviertel, Yppenplatz, Freihausviertel, Naschmarkt. Das wären die Gebiete, an die man vor allem denkt. Und hier ist das ein Gebiet, das lange Zeit ein bisschen im Dornröschenschlaf war und jetzt erweckt wird.

Bestimmte Prozesse sind sehr typisch für die Gentrifizierung, andere wieder gar nicht. Das ist meiner Meinung nach sehr typisch für Wien, dass diese Gentrifizierung nicht so lehrbuchartig erfolgt, sondern stark geprägt ist durch lokale Besonderheiten.

FM4: Und was wäre dann so eine lokale Besonderheit hier in der Gegend?

Christoph Reinprecht: Die Gegend hier war früher ein Bahnhofsviertel, die wichtigste Eintrittspforte für die Immigration in der Monarchie. Das heißt, hier sind Tausende Menschen aus den ehemaligen Teilen der Monarchie – Böhmen, Mähren – zugewandert, ein großer Teil der jüdischen Zuwanderung ist auch in diesem Gebiet geschehen. Davon ist es geprägt. Also ein Bahnhofsviertel ist gleich ein Arbeiterviertel ist gleich ein Zuwandererviertel, ist gleich ein Viertel ethnischer Minderheiten. Diese Struktur ist im Prinzip bis heute gegeben.

Volkertplatz Aufnahme von oben

DnD Landschaftsplanung / P. Hejduk

Dazu kommt, dass in Wien die Struktur des Wohnungsmarktes generell besonders ist und dazu führt, dass Gentrifizierungsprozesse eine bestimmte Dynamik einnehmen. Es ist nämlich nicht so, dass das Gebiet als gesamtes gentrifiziert wird, indem bestehende Häuser saniert und veräußert werden, das gibt es auch, aber das ist nicht immer der Fall. In Wien wird meistens versucht, Stadtraum zu verdichten und attraktiv zu machen für neue Bevölkerungsgruppen. Ein charakteristisches Merkmal ist dabei der Bau von Dachwohnungen. Das Gebiet hier ist durch eine besondere Dichte an Dachausbauten gekennzeichnet. Circa die Hälfte der Häuser wird dann in der Regel verkauft, aber die anderen nicht. Das heißt, die Struktur der Bevölkerung bleibt in den anderen Fällen bestehen und es wird eben was draufgesetzt.

„Es kommt eine neue Bevölkerungsgruppe herein, die mit der bestehenden sozialen Struktur wenig zu tun hat, während die bisherigen Mieter*innen in den unteren Geschoßen bleiben.“

Hier gibt es dann eine sehr starke vertikale Differenzierung. Das heißt, wir treten in diese Häuser ein, die oft vielleicht noch Kategorie D haben, also wirklich sehr niedrige Wohnqualität mit Toilette am Gang zum Beispiel, wir steigen hinauf und oben haben wir ausgebaute Dachböden mit einer Hochwertigkeit, die dann natürlich auch eine ganz andere Sozialstruktur mit sich bringt.

FM4: Sie haben jetzt schon ein paar andere gentrifizierte Gebiete genannt: Yppenplatz, Karmelitermarkt... Auffällig ist, dass Märkte hier eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Warum ist das so?

Christoph Reinprecht: Die Gentrifizierung ist ja verbunden mit einer ökonomischen In-Wert-Setzung, das ist das eine wesentliche Merkmal, aber auch mit einer kulturellen In-Wert-Setzung. Wir haben immer Gebiete, die ein „verstecktes kulturelles Potenzial“ haben. Die neu hinzuziehenden Bevölkerungsgruppen sind wohlhabendere, häufig gebildete Gruppen, die im Stadtraum auch so etwas wie einen Erlebnisraum suchen. Und diese Rolle kann ein Markt erfüllen. Das ist Geschichtlichkeit eines Ortes, nicht zufällig sind Gebiete, die gentrifiziert werden, Gebiete, die beginnen, die Geschichte zu bearbeiten. Weil die sogenannten Pioniere, also die, die früh in diese Gebiete gehen, weil der Wohnraum billig ist oder desolat, also Studierende, Intellektuelle, diese Arbeit der kulturellen Wiederentdeckung als Aufwertung beginnen.

„Gleichzeitig spielt der Markt eine Rolle, weil der Markt das Sinnbild des Urbanen für diese neuen Mittelschichten ist.“

Dieser Markt hier, der Volkertmarkt, ist ja interessant, weil er im Prinzip keine zentrale Funktion der Nahversorgung mehr hat. Es gibt noch einige Kioske, es sind vielleicht noch zwei, drei Geschäfte in Betrieb, es gibt ein bisschen Gastronomie, es gibt am Samstag einen Bauernmarkt. Aber die Bedeutung des Marktes hier geht über die eigentliche Funktion hinaus. Es gibt diesem Gebiet einen Wert, eine Urbanität, die eigentlich in diesem Sinn der Urbanität etwas sehr Mittelschicht-Bezogenes ist. Es gibt in der Gegend dann den ein oder anderen Bio- oder Feinkostladen, aber das ist nicht etwas, das eine echte Nahversorgungsfunktion erfüllt.

FM4: Das Mieten ist in den letzten Jahren in vielen europäischen Großstädten für viele unfinanzierbar geworden. Ist Stadtleben in Zukunft nur noch etwas für Reiche?

Christoph Reinprecht: Naja, in der Stadtforschung spricht man von der Planetary Gentrification. Damit ist gemeint, dass es eine weltweite, durchziehende Gentrifizierung gibt. Das heißt der Stadtraum wird in Wert gesetzt und damit auch attraktiv für Investoren und für Leute, die Geld haben.

„Wohnen wird dadurch im Wesentlichen ein Finanzprodukt, das auch rasch und häufig seinen Eigentümer wechselt.“

Das ist etwas sehr Charakteristisches, das wir weltweit beobachten können. Und das Problem ist, dass es in der Tat Beispiele gibt – nehmen wir London, Paris, Amsterdam, Mailand – die in den innerstädtischen Gebieten de facto für einen Großteil der Bevölkerung bis in die Mittelschichten hinein unleistbar geworden ist. Die Stadt wird also ein Finanzprodukt. Das ist auch ein Ergebnis der Wirtschaftskrisen und das wird weiterhin zunehmen. Und das geht natürlich einher mit vermehrtem Kampf um die Stadt und Kampf ums Wohnen.

FM4: Wie würden Sie Wien in diesem globalen Zusammenhang einordnen?

Christoph Reinprecht: Wien ist sicher insofern privilegiert, weil die Stadt zwei Besonderheiten hat: Eine Besonderheit ist, dass Wien fast 50 Jahren lang eine Art Schattendasein gelebt hat nach 1945. Das heißt, der Druck, der in anderen Städten Westeuropas stattgefunden hat, hat hier wenige Spuren hinterlassen. Es gab zwar eine gewisse ökonomische Dynamik nach dem Zweiten Weltkrieg, es gab Zuwanderung, aber im Vergleich zu anderen Großstädten Westeuropas wesentlich geringer. Seit den 90er Jahren hat sich das verändert.

„Wir haben jetzt seit 30 Jahren relativ viel Dynamik – wirtschaftlich und bevölkerungsdemographisch.“

Der zweite Punkt ist, dass Wien, im Unterschied zu vielen anderen Städten Europas, einen sehr großen sozialen Sektor hat im Wohnbau, der über die Brüche der Zeit hinweg nahezu unverändert besteht. In vielen anderen Städten haben wir nach 1980, 1990 eher Liberalisierungen in diesem Wohnungsmarkt, wir haben Veräußerungen vom kommunalen Wohnsektor. In Deutschland sind zum Beispiel nahezu alle kommunalen Wohnbauten privatisiert oder verkauft worden, das Gemeinnützigkeitsgesetz wurde ausgeschwemmt. Das alles ist hier nicht passiert. Hier gibt es eine gewisse Kontinuität und die beruht auf einem recht großen Konsens in der Gesellschaft.

Und dazu kommt, dass Wien im Vergleich zu Berlin oder Paris eine recht großzügige Fläche hat. Also die Bevölkerungsdichte ist über den gesamten Stadtraum gemessen relativ gering. Und das gibt der Stadt mehr Luft, um diesen Prozess zu verarbeiten.

FM4: Wenn man sich in Wien die Gemeindebauten anschaut, dann ist eine Besonderheit ja schon, dass es die in jedem Bezirk gibt, in allen Lagen. Führt das zu einer guten sozialen Durchmischung, sofern man diesen Begriff verwenden will? Und wie wichtig ist das für eine Stadt?

Christoph Reinprecht: Durchmischung ist an sich ein ambivalentes Konzept. Was heißt Durchmischung? Es gibt in Wien schon auch eine Segregation, es ist nicht so, dass Wien gleichmäßig besiedelt ist. Diese Segregation wird aber nicht nur durch den Wohnungsmarkt, sondern auch durch Merkmale wie Migration, Einkommen oder Beruf beeinflusst. Die Frage ist also immer: Woran mache ich das fest? Wenn ich es an wie eben genannten sozialstrukturellen Merkmalen festmache, dann ist Wien wie andere Städte auch relativ stark segregiert. Wenn ich das aber etwas grobmaschiger sehe, dann ist Wien in der Tat gut durchmischt, weil der Wohnungsmarkt dafür sorgt, dass es wenig Konzentration gibt.

FM4: Und welche stadtplanerischen Maßnahmen kann man hier setzen?

Christoph Reinprecht: In Wien wird derzeit in Neubaugebieten die soziale Durchmischung hergestellt über die Mischung der Bauträger und der Finanzierungsformen. Also in Neubaugebieten wie der Seestadt oder dem Sonnwendviertel hat man ein Nebeneinander von gefördertem, super gefördertem, durch Bauträgergruppen oder privat finanziertem Wohnraum. Darüber wird dann letztlich auch das Publikum durchmischt und das ist die Strategie, mit der Wien versucht, soziale Durchmischung herzustellen.

FM4: Sie haben im April gemeinsam mit 100 Unterzeichner*innen einen offenen Brief unterschrieben, wo es darum ging, das Menschenrecht auf Wohnen zu stärken. Gerade auch in der Zeit dieser weltweiten Pandemie ist das Ihrer Meinung nach in Gefahr gewesen. Es gab Maßnahmen: Mieten konnten gestundet werden, Delogierungen wurden zeitweise gestoppt. Hat Wien da genug getan?

Christoph Reinprecht: An sich muss man Wien zugutehalten, dass die Wohnungsfrage eine zentrale stadtpolitische Agenda ist. Das ist nicht selbstverständlich. Und daher hat Wien viele Instrumente zur Hand, auch in Krisen zu steuern, etwa die Delogierungsprävention auszubauen.

Wien hat großzügigen und ausgeprägten sozialen Wohnbau und Wohnbauförderung. Aber es gibt in Wien kein wirkliches Recht auf Wohnen. Das Recht auf Wohnen würde bedeuten, dass ich als Bürger*in einen Rechtsanspruch geltend machen kann in einem juristischen Sinn, wenn ich keinen Zugang zum Wohnraum habe. Ein solches Recht gibt es in Wien nicht. Es ist auch so, dass eine Vielzahl von Menschen ausgeschlossen sind vom sozialen oder kommunalen Wohnbau. Das System ist im Zugang administrativ komplex und es steht Menschen, die gewisse Kriterien nicht erfüllen, nicht offen. Es ist wichtig, dass Wohnen nicht nur als ein marktbezogenes Gut zu sehen, sondern als eine Notwendigkeit der Existenz und damit ein Grundrecht, im weitesten Sinne ein Menschenrecht.

„Wohnen als Menschenrecht zu verstehen würde auch die öffentliche Hand dazu verpflichten, jedem und jeder Zugang zu Wohnraum zu verschaffen.“

Länder wie Frankreich haben ein Recht auf Wohnen. Dort ist die Schwierigkeit aber: Wie kann ich dieses Recht geltend machen? Es kann dort passieren, dass mir das Gericht Recht gibt, ich dann aber mit dem Urteil dastehe, vielleicht die Gemeinde oder der Wohnbauträger eine Entschädigung zahlen muss, aber ich dennoch zu keiner Wohnung komme. Die Frage ist kompliziert, aber sie ist politisch relevant.

FM4: Welche Maßnahmen braucht es Ihrer Meinung nach, damit Wohnen wieder leistbarer wird?

Christoph Reinprecht: Die Leistbarkeit ist ein riesiges Problem. In Wien im Neubau geben Menschen bis zu 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus. Im Schnitt ist es weniger, weil wir in Wien auch viele Menschen haben, die noch sehr alte, günstige Mietverträge haben oder Kategoriemieten, also die gebunden sind, das ist das Mietrecht bis in die 80er hinein.

Mittlerweile gibt es zwei Fehlwege. Einer ist das Mietrichtwertswesen, das davon ausgeht, dass lagebezogene Aufschläge möglich sind, was dazu führt, dass in Wien, als eine Stadt mit flächendeckend sehr guter Infrastruktur, großflächig und sehr undifferenziert Aufschläge gefordert werden. Also man müsste hier zu einer Art Richtzinsbegrenzung kommen oder zu bestimmten Formen einer Mietpreisdeckelung.

Und das Zweite ist: Wir müssen unbedingt weg von den Befristungen. In der Veränderung des Mietrechtes in den 80er und 90er Jahren wurde die Möglichkeit der Befristung immer weiter ausgedehnt und Befristungen sind mittlerweile ein entscheidendes Mittel der Eigentümer und Vermieter geworden, eine Mieterhöhung durchzusetzen mit jeder Neuvermietung. Und das ist ein echtes Problem.

FM4: Sehen Sie auch Chancen, dass das wirklich passiert?

Christoph Reinprecht: Das ist eine Frage der politischen Verhältnisse. Man muss das ganz klar sagen: Wohnungsfragen sind politische Fragen. Und es kommt ganz stark drauf an, dass sich die Mieter*innen organisieren. Nicht nur parteipolitisch, sondern auch in ihrem Interesse als Mieterinnen und Mieter. Es gibt weltweit Versuche einer solchen Organisation und das müsste hier vielleicht noch viel stärker geschehen.

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