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EU-Flagge im Schlamm

Hasan Ulukisa

„Viele Menschen verlieren die Hoffnung“

Im Norden Bosniens leben tausende Geflüchtete unter katastrophalen Bedingungen. Wenn sie versuchen, dem zu entkommen und die Grenze in die EU zu überqueren, erleben sie oft brutale Grenzgewalt und auch immer öfter sexualisierte Übergriffe.

Von David Riegler

Seit der Schließung der Balkanroute sind tausende Geflüchtete im Norden Bosniens gestrandet, ohne Hoffnung auf Weiterkommen. Viele leben unter katastrophalen Bedingungen, sind obdachlos und haben oft nicht einmal ausreichend Essen oder Wasser. Vor allem erwachsene Männer ohne Familien finden häufig keinen Platz in den offiziellen Camps und suchen Schutz in verlassenen Lagerhallen, Ruinen oder in Zelten, was im eiskalten Winter in Bosnien lebensgefährlich ist. Als Reaktion auf die drohende humanitäre Katastrophe haben Hilfsorganisationen den Winter über Notzelte aufgebaut.

Zelt im Schnee mit Geflüchtetem

Hasan Ulukisa

Das umstrittene Lager Lipa im Norden Bosniens besteht aus beheizten Militärzelten und liegt abseits der Dörfer in den Bergen.

Jetzt, wo die Temperaturen langsam steigen, versuchen viele Menschen diesen Zuständen zu entkommen und über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu gelangen. Doch es häufen sich Berichte und Augenzeugenaussagen über das brutale Vorgehen der kroatischen Polizei gegenüber den Geflüchteten. Für die Hilfsorganisationen vor Ort ist es mittlerweile trauriger Alltag, dass Menschen mit massiven Verletzungen von der Grenze zurückkommen. Die Berichte sind oft ähnlich – die Menschen erzählen, dass ihnen Handys weggenommen werden, genauso wie Kleidung und Schuhe und sie unter Gewalt zurück nach Bosnien gebracht werden, ohne die Möglichkeit, in der EU einen Asylantrag zu stellen, mittels illegaler Push-Backs.

Die Zeichen der Gewalt hat auch Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, erlebt, als er vor kurzem in Bosnien war: „Man sieht es an den Spuren an ihren Körpern. Ich habe mehrere Rücken, beziehungsweise den Bereich zwischen Gesäß und Kniekehle gesehen, die komplett schwarz waren. Die geflüchteten Menschen sagen, dass sie von der Exekutive in Kroatien brutalst geschlagen worden wären und dann über die Grenze zurückgeschoben wurden. Es ist erschütternd, dass das mitten in Europa stattfindet.“

Zelte im Wald

Hasan Ulukisa

Die Region um die Stadt Velika Kladuša ist Dreh- und Angelpunkt der Fluchtbewegung. Viele Geflüchtete leben im Wald und in verlassenen Abbruchhäusern.

Die kroatischen Behörden weisen die Vorwürfe zurück, doch es gibt zahlreiche Augenzeugenaussagen, gut dokumentierte Fälle der Verletzungen und sogar einige Klagen gegen die kroatische Exekutive, die ein dramatisches Bild der Grenzgewalt zeichnen. Im Interview mit Deutschlandfunk berichtet eine Ärztin vor Ort, dass sie regelmäßig schwere Verletzungen und sogar Gesichtsfrakturen behandelt, bei Menschen, die versucht haben, die Grenze zu übertreten. Laut der Ärztin weisen die Verletzungen darauf hin, dass sie getreten werden und mit Fäusten und Gewehren auf sie eingeschlagen wird. Sogar Kinder sind nicht geschützt, so musste sie ein vier Monate altes Baby behandeln, das Tränengas in die Augen bekommen hat.

Doch es sind nicht nur Schläge und Tritte, von denen die Menschen erzählen. Es gibt auch immer mehr Aussagen von Betroffenen über sexualisierte Gewalt. Der Guardian berichtet von einer afghanischen Frau, die erzählt, dass sie sich vor Grenzpolizisten nackt ausziehen musste und am ganzen Körper berührt wurde. Sie sagt, die Polizisten hätten ihr mit dem Tod gedroht, würde sie jemals wieder nach Kroatien zurückkehren. Diese Art der sexualisierten Gewalt ist für Hasan Ulukisa von der NGO SOS Balkanroute kein Einzelfall: „Es gibt sehr viele Gewaltformen, wo Menschen sich ausziehen müssen, wo sie erniedrigt werden und wo ihnen eingetrichtert wird, dass sie den Versuch erst gar nicht antreten sollen, weil sie es sowieso nicht schaffen werden.“

Ruine mit Geflüchtetem

Hasan Ulukisa

Das nie in Betrieb genommene Pensionistenheim im Zentrum von Bihać beherbergt rund 300 Menschen, die öfter mit Räumungen und diversen Repressionen konfrontiert sind.

Immer öfters tauchen Berichte auf, die darauf hinweisen, dass Fälle sexualisierter Gewalt keine Ausnahmen an der bosnisch-kroatischen Grenze sind, auch gegen Männer, wie ein Bericht der ARD zeigt. Darin erzählt eine Gruppe Männer, dass sie gezwungen wurden, sich auszuziehen, sich aufeinanderzulegen und unter Drohungen eine sexuelle Handlung simulieren mussten. Nach dieser Demütigung seien sie geschlagen worden, erzählen die Männer. Ähnliche Berichte gibt es schon seit mehreren Monaten, so hat im Oktober 2020 der Guardian von einem Fall berichtet, bei dem ein Mann angibt, von Grenzpolizisten mit einem Ast sexuell misshandelt worden zu sein. Ein Arzt in Bosnien hat die Spuren sexualisierter Gewalt bestätigt, jedoch haben die kroatischen Behörden all diese Vorwürfe immer dementiert.

Schon 2018 hat Kroatien eine Zahlung über 300.000 Euro von der Europäischen Union erhalten, um die Grenzpolizei zu überprüfen und für die Einhaltung der Gesetze und Menschenrechte zu sorgen. Doch wenn man die Berichte der NGOs und die Zeugenaussagen der Menschen hört, hat sich wohl nichts verbessert, im Gegenteil, die Hilfsorganisationen berichten von einer Häufung der Gewalt an der kroatisch-bosnischen Grenze und von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen.

Trotz dieser traumatisierenden Erlebnisse versuchen die Menschen immer wieder, über die Grenze zu kommen, denn die Zustände in den heruntergekommenen Lagern in Bosnien stagnieren seit Jahren. Die EU schickt regelmäßig finanzielle Mittel und setzt auf sogenannte „Hilfe vor Ort“, doch laut den Hilfsorganisationen kommen die Hilfszahlungen meist nicht bei den Geflüchteten an. NGOs wie SOS Balkanroute arbeiten mit Hochdruck daran, zumindest die Grundbedürfnisse wie Essen, Kleidung und Feuerholz zu organisieren, doch es mangelt an allen Ecken und Enden.

Hilfslieferung von SOS Balkanroute

Hasan Ulukisa

Hilfslieferungen der NGO SOS Balkanroute.

Die aktuelle Pandemie verschärft die Situation zusätzlich. In einigen Flüchtlingszentren gab es COVID-19 Ausbrüche, doch die medizinische Versorgung ist kaum gegeben. Erich Fenninger von der Volkshilfe Österreich hat erlebt, wie ein Mann mit einem Lungenödem nicht behandelt wurde: „Eine Flüchtlingshelferin, die aus Bosnien stammt und dort lebt, hat versucht, ihn behandeln zu lassen, doch die medizinische Behandlung wurde verweigert.“ Auch andere Krankheiten, wie etwa die Krätze, brechen regelmäßig in den Flüchtlingszentren aus.

Hasan Ulukisa, der regelmäßig für SOS Balkanroute in Bosnien ist, beobachtet, wie dramatisch sich die Situation auf die Geflüchteten auswirkt: „Viele Menschen verlieren die Hoffnung. Wir haben mit einer Person gesprochen, die dreißigmal versucht hat, über die Grenze zu kommen. Da kann man sich vorstellen, was an Hoffnung übrig bleibt, wahrscheinlich nichts.“ Die NGOs appellieren dringend an die Politik, endlich zu handeln.

Auch Erich Fenninger von der Volkshilfe Österreich ruft die Politik und jeden Einzelnen dazu auf, etwas gegen die Menschenrechtsverletzungen am Balkan zu tun: „Wir müssen dem eine Politik und einen gesellschaftlichen Entwurf für ein humanes Europa entgegenstellen. Und ich glaube es ist längst an der Zeit, dass wir gemeinsam aufstehen und Bewegungen zivilgesellschaftlicher Natur aufbauen, damit jedem das Menschenrecht zusteht und, dass wir diese Verhältnisse, die wenige Autofahrstunden von Österreichs Grenzen entfernt sind, nicht zulassen.“

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