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Ensemble von "Die Aussprache" am Heuboden.

2022 Orion Releasing LLC

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„Die Aussprache“ ist der feministische Film, den wir jetzt brauchen

Sarah Polleys Ensemblefilm „Die Aussprache“ („Women Talking“) ist heuer für einen Oscar als Bester Film nominiert. Im FM4-Interview spricht die Regisseurin und Autorin über Zutrauen, Demokratie und Religion.

Von Maria Motter

Sarah Polley ist in ihrer privaten Runde von einer befreundeten Juristin angesprochen worden: Sie wisse, was Sarahs nächster Film sein werde. „Das war amüsant, dass sie das so bestimmt gesagt hat, weil ich gar nicht oft Filme mache. Sie hat mir von Miriam Toews’ Buch ‚Women Talking’ erzählt“, sagt Sarah Polley im FM4-Interview. Jetzt ist sie mit „Die Aussprache“ (im Original „Women Talking“) heuer die einzige Frau mit einer Oscar-Nominierung als „Bester Film“. Zudem ist die Kanadierin in der Kategorie „Bestes adaptiertes Drehbuch“ nominiert.

„Als ich dabei war, das Buch für das Drehbuch zu adaptieren, haben wir es im Book Club gelesen und ich konnte zehn wundervollen Frauen zuhören, wie sie darüber sprechen und diskutieren", sagt Sarah Polley. Für den Horror, der in ihrem Spielfilm „Die Aussprache“ ans Licht kommt, hat sie erst spät bei der Arbeit am Film ein Bild gefunden: Eine Frau wacht morgens auf, sie wirkt noch benommen, ihr Nachthemd ist blutig und ihre Oberschenkel sind voll blauer Flecken und wund. Damit ist alles klar, und dann sprechen die Frauen. Sarah Polley wollte die tatsächlichen Taten keinesfalls inszenieren.

Eine Geschichte nach einem wahren Fall

Mädchen und Frauen einer mennonitischen Gemeinschaft wurden über Jahre hinweg im Schlaf mit einem Narkosemittel betäubt und vergewaltigt. In ihrem Zuhause. Als die Mädchen und Frauen zu sprechen begannen, wurde ihnen erklärt, sie hätten sich das alles nur eingebildet oder der Teufel habe sie heimgesucht. Die „Ghost Rapes“ waren massive, reale Missbrauchsfälle in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien. Die Täter verübten die Gewalt gegen die Mädchen und Frauen von 2005 bis 2009.

Sarah Polley und Rooney Mara am Set von "Die Aussprache".

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Sarah Polley und Rooney Mara am Set von „Die Aussprache“.

Die kanadische Bestseller-Autorin Miriam Toews, selbst gebürtige Mennonitin, antwortet 2018 auf diese Tatsachen und die psychische Manipulation, die Frauen hätten sich das alles nur eingebildet, mit ihrer weiblichen Vorstellungskraft: Ihr Buch „Women Talking“ – deutsch: „Die Aussprache“ – versteht sie als eine Fabel. In Toews’ fiktiver Fortschreibung der Ereignisse kommen die Frauen auf einem Heuboden zusammen und stimmen ab: Wollen sie nichts unternehmen, bleiben und kämpfen oder gehen.

„Ich liebe die Fragen im Buch und die Art und Weise, wie hier viele der komplexen Themen, die wir heute im Diskurs haben, so viel tiefer gehen und vor allem zukunftsweisend behandelt werden. Im Sinne von: Den Fokus darauf zu richten, was wir begründen wollen – statt auf das, was wir zerstören wollen, wie Ona im Film sagt“.

Rooney Mara spielt Ona, eine Frau, die von ihrem Vergewaltiger schwanger ist. Claire Foy brilliert in diesem großen Ensemblefilm als Mutter eines Kleinkindes, Jessie Buckley als erwachsene Tochter, die der häuslichen Gewalt ihres Ehemanns ausgesetzt ist und deren eigene Mutter weggeschaut hat. Produzentin Frances McDormand hat eine Nebenrolle als eine der Strengsten in dieser Siedlung, die ohne Elektrizität und möglichst abgeschieden von der Welt existiert.

Nur einmal kommt die ferne Welt den Frauen nahe: Da fährt ein Mann im Pick-up-Truck durch die Siedlung, ruft die Menschen auf, für die Volkszählung aus den Häusern zu kommen. Er trägt eine verspiegelte Pilotenbrille und aus dem Lautsprecher plärrt „Daydream Believer“. Es ist einer der magischen Kinomomente. Und eine Mutter schließt die Fenster und Frances McDormand mahnt Tochter und Enkeltochter allein mit dem Blick, sich nicht zu rühren. Diese Menschen haben sich eine Welt abseits der Welt gezimmert, doch jetzt droht sie aus den Fugen zu geraten. Vielmehr noch: Es werden die Frauen sein, die sie aus den Angeln heben.

„Die Aussprache“ kommt diese Woche in die Kinos. Die Oscars werden am 13. März 2023 verliehen.

Das Publikum ist mit den Frauen auf einem Dachboden. Sie sind Analphabetinnen und sie richten eine eigene Abstimmung aus. Sie wählen, um eine Entscheidung zu treffen. „Das hat mich an ‚Die Aussprache‘ so begeistert!", freut sich Sarah Polley. "Unter Politikern hört man oft, das Land wäre gar nicht bereit für Demokratie und dergleichen. Speziell wenn man in einer Gemeinschaft aufgewachsen ist, in der alle aufeinander angewiesen sind, denke ich, dass man in der Lage ist, sich zusammenzusetzen und Dinge zu verhandeln und einen Weg vorwärts zu finden – auch wenn wir nicht in allem übereinstimmen“, so Sarah Polley.

Mehr Demokratie wagen

Diese Art radikaler Demokratie im Buch hat sie neugierig gemacht. „Der Prozess im Film bewegt sich darauf zu, wie Demokratie wirklich sein sollte, wenn sie aktiv gelebt wird – im Gegensatz zu diesem passiven, alle vier Jahre Wählengehen.“ Und wir Menschen haben einen Instinkt für die Arbeit in Gruppen, davon ist Sarah Polley überzeugt. „Ich glaube, wir sind eine Spezies, die von Natur aus auf Gemeinschaft ausgerichtet ist. Wenn man Menschenaffen anschaut: Da sind die am erfolgreichsten, die tatsächlich selbstlos handeln. Das haben auch wir in uns.“

Die enorme Stärke des Films liegt im Arrangement, wann welches Thema aufkommt. Die Dialoge sind so gescheit und von einer herzergreifenden Allgemeingültigkeit. Die Frauen schenken einander nichts, doch sie sind einander immer zugetan. Sie diskutieren, wie sie leben wollen, wie sie es mit der Religion halten und was aus ihren Buben werden soll.

Sarah Polley behandelt hier vieles, für das wir erst allmählich Begriffe finden – von psychischer Manipulation wie Gaslighting, sexuellem Missbrauch, Missbrauch von Kindern und häuslicher Gewalt wie Coercive Control.

Und dann ist da die Religion. Was ist für Sarah Polley so wichtig daran gewesen, dieses System einer fundamentalistischen Gesellschaft zu zeigen? „Mir war wirklich wichtig, den Glauben dieser Frauen zu würdigen. Um ihrem Glauben gerecht zu werden und sich auf ihren Glauben zuzubewegen, müssen sie viele Machtstrukturen aushebeln, die um ihre Religion entstanden sind. Aber es geht absolut nicht darum, ihren Glauben oder Religion an sich auseinanderzunehmen. Ich finde auch nicht, dass die Frauen von ihrem Glauben wegrennen. Sie finden vielmehr einen Weg in ihrem Glauben.“

Ensemble von "Die Aussprache"

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Sarah Polley kennt die Filmbranche von Kindesbeinen an. Ihre Erfahrungen erzählt sie in „Run towards the danger“. Als Regisseurin hat sie Filme wie „Take this waltz“ und Serien gemacht. Sie spricht sich für Gesetze aus, die jährliche Arbeitszeiten für Kinderdarsteller limitieren und eine Psychologin am Set, die von der Gewerkschaft und nicht von den Eltern oder der Produktionsfirma beauftragt und bezahlt wird.

Frances McDormand als Produzentin und im Cast

Montag, 13.02.2023 #166 FM4 Filmpodcast: Women Talking & Decision To Leave

Zwei höchst unterschiedliche Filme stehen diesmal im Zentrum, die sich beide allerdings mit einer großen Zurückhaltung ihren drastischen Themen nähern. In Sarah Polleys Drama „Women Talking“ sieht sich eine Gruppe von Frauen in einer isolierten religiösen Kolonie mit sexuellen Übergriffen seitens der dort lebenden Männer konfrontiert.

In Park Chan-wooks Thriller „Decision To Leave“ verlieben sich eine Mordverdächtige und ein Polizist - und bleiben auf Distanz. Pia Reiser und Christian Fuchs diskutieren über die Strategien, Ideen und Stilmittel hinter diesen Filmen.

Wie war es für Sarah Polley, Frances McDormand als eine der Produzentinnen und im Cast zu haben? „Wie die Frauen im Film hab ich mit Dede Gardner und Frances McDormand [den Produzentinnen] viele Stadien und Entwicklungen in unserer Beziehung erlebt. Wir haben viel durchgearbeitet und haben von Beginn an bereichernde, faszinierende und fordernde Gespräche gehabt – bis heute.“ Frances McDormand und Dede Gardner mussten Sarah Polley überreden, zusätzlich zur Arbeit am Drehbuch dann auch die Regie zu übernehmen. Sarah Polley, die als Kind selbst wie ein erwachsener Schauspieler zu Schauspielarbeit und Dreharbeiten eingeteilt war, hat drei Kinder. Die täglichen Arbeitszeiten für die Dreharbeiten wurden deshalb verkürzt. Auch Rooney Mara hatte ihr Baby am Set dabei.

Und ja, es stimmt, dass auf Polleys Wunsch für die Dreharbeiten auch eine Traumatherapeutin vor Ort war. „Ja, Dr. Lori Haskell“, sagt Sarah Polley, “Sie ist eine beeindruckende klinische Psychologin, die sich darauf spezialisiert hat, was Trauma im Gehirn auslöst. Sie ist von Anfang an dabei gewesen. Sie hat uns erklärt, was möglicherweise mit der Psyche dieser Frauen passiert ist, wie ihr Gehirn reagiert. Und sie hat uns vermittelt, was wir machen könnten, wenn für jemanden von uns, ob im Cast oder in der Crew, etwas hochkommt durch die Beschäftigung mit diesem Stoff.“ Das habe sehr geholfen und ein Gefühl von Resilienz bewirkt. “So dass wir Risiken eingehen und uns auch in schwere Lagen versetzen konnten im Wissen, dass uns jemand auffangen würde."

Sarah Polley, die in ihrem Buch „Run towards the danger“ klipp und klar über ihre Erfahrungen in der Filmbranche von Kindesbeinen an erzählt, war dieses Angebot besonders wichtig. Auch, weil sie Menschen in ihrem Filmteam seit Jahren kennt und weiß, dass sie Missbrauch erlebt haben oder in Gemeinschaften wie der im Film aufgewachsen sind.

Wir sind überhaupt noch nicht mal in der Nähe eines Umfelds, in dem Frauen sicher wären in der Filmbranche – ganz egal, in welchem Arbeitsschritt, hält Polley fest.

Drei Schauspielerinnen von "Die Aussprache" sitzen in maßgeschneiderten Kleidern auf einer Wiese.

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Ben Whishow ist der Good Guy in „Die Aussprache“.

Braucht es den guten Kerl in „Die Aussprache“?

Im Film gibt es - wie im Roman von Miriam Toews - den einen guten Kerl, den Lehrer, der die Debatten und Überlegungen der Frauen protokolliert. Brauchen wir noch immer den good guy? Sarah Polley lacht. „Ich hab das Gefühl gehabt, dass ich einen guten Kerl brauche. Was ich an Miriams Buch so liebe, ist, wie Ona sagt, konzentrieren wir uns auf das, was wir begründen wollen. Ich finde es interessant, dass der einzige Mann, den wir kennenlernen, ein guter Kerl ist. Wir wissen genug, wir müssen nicht die in den Mittelpunkt stellen, die diese Taten verübt haben. Darauf wollte ich mich nicht fokussieren. Und ich hasse Filme über Bösewichte, weil ich es ihnen nicht abnehme." Die Vorstellung davon zu zeigen, wie ein guter Mann sich in einer derartigen Situation verhält, war Polley ein Anliegen.

„Die Aussprache“ spielt in einer seltsam entrückt erscheinenden, vor allem aber abgeschlossenen Welt. Und teilweise schwindet die Farbsättigung fast ins Schwarzweiße. „Mir geht es darum, dass dem Publikum klar ist, dass die Geschichte, die wir sehen, eine weibliche Fantasie und Vorstellung ist. Ich will das Publikum ab und an mit der Farbe überraschen. Dass man manchmal den Eindruck hat, es wird Schwarz-Weiß, aber dann realisiert, dass da Farbe ist und auch, dass man nicht unbedingt ein Gefühl dafür hat, wann und wo alles spielt. Und dass es an fast ausgeblichene Postkarten und an eine Welt, die fast schon Geschichte ist, erinnert. Weil die Geschichte wird zurückblickend, aus der Zukunft erzählt. Es ist wie Nostalgie. Wir schauen zurück.“

„Die Aussprache“ ist großteils ein Kammerspiel auf einem Heuboden. Die Schauspielerinnen tragen Flechtfrisuren und Polyesterkleider, im Soundtrack ist christliches Liedgut. Und in all dem ist „Die Aussprache“ genau der Film, den wir jetzt brauchen als Antwort auf Machtstrukturen, für die Aufarbeitung von Missbrauch und für ganz viel Zuversicht in die Zukunft. Ein aufschlussreicher Satz noch vor dem Kinobesuch von Produzentin Frances McDormand zu „Die Aussprache“: Es geht nicht darum, das Patriarchat zu stürzen, es geht darum, ein Matriarchat zu beleuchten, das es seit jeher gibt.

Montag, 13.02.2023 #166 FM4 Filmpodcast: Women Talking & Decision To Leave

Zwei höchst unterschiedliche Filme stehen diesmal im Zentrum, die sich beide allerdings mit einer großen Zurückhaltung ihren drastischen Themen nähern. In Sarah Polleys Drama „Women Talking“ sieht sich eine Gruppe von Frauen in einer isolierten religiösen Kolonie mit sexuellen Übergriffen seitens der dort lebenden Männer konfrontiert.

In Park Chan-wooks Thriller „Decision To Leave“ verlieben sich eine Mordverdächtige und ein Polizist - und bleiben auf Distanz. Pia Reiser und Christian Fuchs diskutieren über die Strategien, Ideen und Stilmittel hinter diesen Filmen.

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