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"22 Bahnen" von Caroline Wahl

Dumont

„22 Bahnen“ zum Eintauchen

Caroline Wahl hat ein freshes und beeindruckendes Debüt geschrieben.

Von Zita Bereuter

22 Bahnen schwimmt Tilda Schmitt jeden Abend. Das braucht sie, das bringt sie weg von ihrem Alltag. Sie studiert Mathe, arbeitet nebenbei an der Kassa eines Supermarkts und kümmert sich um ihre kleine Schwester Ida. Für die ist sie eine Art Ersatzmutter, denn die leibliche Mutter ist Alkoholikerin und oft nicht zurechnungsfähig.

„Sie brät meistens Spiegeleier, wenn sie Scheiße gebaut hat. Ida und ich hassen inzwischen Spiegeleier. Früher hat sie oft Toast Hawaii gemacht, aber dann haben in der Regel Zutaten gefehlt, und Knäckebrot mit überbackenem Scheibletten-Käse oder Toast mit einer Ananasscheibe belegt schmeckt einfach scheiße. Deswegen gibt es jetzt fast regelmäßig, im Schnitt alle 12 Tage, Spiegeleier.“

Tilda wäre längst in Berlin, wo die meisten aus ihrer ehemaligen Klasse sind. Aber aus Liebe und Verantwortung zu ihrer jüngeren Schwester bleibt sie in der faden Kleinstadt. Und schwimmt.

"22 Bahnen" von Caroline Wahl

Dumont

Der Debütroman „22 Bahnen“ von Caroline Wahl ist bei Dumont erschienen. Zur Leseprobe

Eines Tages taucht, im wahrsten Sinn des Wortes, im Schwimmbadein Typ auf: Viktor Wolkow, den sie als den älteren Bruder von Iwan erkennt.

„Mein Blick folgt jeder seiner Bewegungen, und ich denke an seinen kleinen Bruder, an sein raschelndes leises Lachen, an seine heisere Stimme. Ich lasse den großen Bruder nicht aus den Augen, weil ich Angst habe, ihn zu verlieren. Außerdem hat er wirklich einen schönen Schwimmstil, den man hier selten zu sehen bekommt.“

Zu Iwan hatte sie eine besondere Verbindung, und schnell ahnt man eine Tragödie.

Mit wenigen Bildern zeigt Caroline Wahl soziale Unterschiede auf, etwa, wenn Tilda an der Supermarktkassa sitzt, die Waren einscannt und anhand des Einkaufs rät, wer wohl die Person dahinter sein kann.

„Rosé-Wein, Rosé-Wein, Rosé-Wein, Werther’s-Karamellbonbons, Marlboro Gold XL, Spaghetti, Hackfleisch, Marlboro Gold XL, Tomatenmarkt. Marlene, rate und hoffe ich, sage ‚26,30 Euro‘, schaue hoch und mustere meine beste Freundin. Ihre hellblonden, glatten Haare, die letztes Mal noch sehr lang waren, reichen jetzt nur noch bis zur Schulter und haben einen leichten Rosastich. Sie trägt ein Over-size-Vintage-Jeanshemd mit Ledershorts. Ich kann meine sich hochziehenden Mundwinkel nicht bändigen.“

Marlene ist auf Heimaturlaub. Im Gegensatz zu Tilda ist Marlene in einer intakten Familie aufgewachsen, Geld war reichlich vorhanden. Ihre Vorstellungen und ihr Lebensstil unterscheiden sich stark von Tildas.

Caroline Wahl

Stefan Klüter

Caroline Wahl hat Germanistik studiert und in mehreren Verlagen gearbeitet. Sie lebt in Rostock.

„Marlene: Ich verstehe ja, dass die Entscheidung fürs Mathestudium schon so ein gewisses Nein zum Leben war, aber ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich komplett abkehrst von allem. Ich bin jetzt ein Wochenende hier in Deutschland, und das bedeutet: Spaß, Spaß, Spaß. Wir fahren jetzt gleich zu mir, dann ziehen wir uns um, trinken unseren Wein. Machen uns ’ne Bolo, und dann geht’s ab zum Rave. (…) Leon und seine ganzen heißen Hipster-Freunde aus Berlin sind da. Das wird ein großes Ding.“

Das Treffen mit Marlene, was sich im letzten Sommer vor einigen Jahren mit Iwan abgespielt hat und wie sich Tilda und Viktor annähern, erzählt Caroline Wahl authentisch, dicht und knapp in einem guten Ton. Vor allem überzeugt die enge Beziehung zwischen zwei Schwestern, die sich Märchen ausdenken, aber längst nicht an welche glauben.

Es ist eine starke Coming-of-Age-Geschichte, leicht und fresh, aber nicht oberflächlich. Unterhaltsam ebenso wie traurig. Kurzum: ein Roman, den man gerne liest. Ein Roman, der Vorfreude aufs Schwimmen weckt. Auf den Sommer. Aufs in der Wiese Liegen. Und aufs Lesen. Etwa „22 Bahnen“.

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