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Closeup von Haarstoppeln, die aus den Poren wachsen

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Warum Haarstoppel politisch sind

Achselhaare oder keine Achselhaare? Diese Frage wird bei weiblich gelesenen Personen zur politischen Frage, ob wir wollen oder nicht. Nichts eckt offenbar mehr an als eine unrasierte Achsel oder Bikinizone. Warum wir Brazilian Waxing dem Patriarchat zu verdanken haben, sagt uns Kulturwissenschaftlerin und Autorin Elisabeth Lechner.

Von Siri Malmborg

„Man hat ein erstes Date oder - noch entscheidender - man hat ein Bewerbungsgespräch. Geht man dort als Frau mit Achsel- und Beinbehaarung hin, im Sommer, wenn man die sehen kann? Macht man das?“, fragt Elisabeth Lechner, Kulturwissenschaftlerin und Autorin des Buches „Riot, don’t diet!“ Die Antwort wird bei vielen lauten: Nein, eher nicht. Wir wissen, dass Körperbehaarung nichts über die berufliche Qualifikation aussagt, aber sie spielt dann eben doch eine Rolle.

Elisabeth Lechner betont, dass wir die Entscheidung, uns zu enthaaren, nicht im luftleeren Raum treffen: „Ich würde infrage stellen, ob es die Position der freien Wahl überhaupt gibt. Mache ich das für mich oder weil ich gelernt habe, dass ich das wollen soll?“, fragt sie. „Es ist nicht so einfach. Wir leben in einer Gesellschaft, die Körperbehaarung entweder zu einer Nichtigkeit erklärt oder zu einer absoluten Monstrosität, die unbedingt entfernt werden muss.“

Körperbehaarung als Grenzüberschreitung

Als gepflegt zu gelten, erfordert bei weiblichen Körpern viel mehr sogenannte Schönheitsarbeit als bei männlichen Körpern. Das nennt sich Grooming Gap: Während bei Männern mitunter Duschen und Bartpflege reicht, investieren Frauen mehr Geld, Zeit und Schmerzen in die Pflege ihres Körpers. Warum tun wir das? Um der Norm zu entsprechen und nicht ausgegrenzt zu werden. Wir sind eine binäre Geschlechterordnung mit enthaarten Frauenkörpern und behaarten Männerkörpern gewohnt. Eine haarige Frauenachsel oder Bikinizone weicht von der Norm ab, und wir nehmen sie als Störung der binären Geschlechterordnung wahr.

„Körperbehaarung ist Grenzüberschreitung. Körperbehaarung an einem weiblichen Körper bedeutet: Da stimmt was nicht, das ist nicht dieser Norm entsprechend. Das ist eine Form von Widerstand“, sagt Elisabeth Lechner. Damit wird die Frage „Achselhaare oder keine Achselhaare?“ zur politischen Frage. Auch, weil Körperbehaarung nicht bei allen weiblichen Körpern gleich bewertet wird. Lange Achselhaare können bei Madonnas Tochter Lourdes edgy wirken, für eine Person of Color, eine Person mit einer Behinderung oder eine queere Person bedeuten sie oft aber noch mehr Anfeindungen, sagt Elisabeth Lechner. Auch die ökonomische Position spielt eine Rolle. Behaarte Beine in der Öffentlichkeit muss man sich sozusagen leisten können.

„Wenn man sich ganz normal durch den Alltag bewegt und aufgrund der nicht entfernten Körperbehaarung schon als politisch oder widerständig abgestempelt wird, zeigt das, wie streng eingeschrieben unsere Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität sind“, sagt Elisabeth Lechner. Auch wenn wir mit unrasierten Beinen kein Statement setzen wollen, wird es automatisch als solches gedeutet. „Daran sehen wir, dass man nicht einfach existieren kann, ohne in so ein politisches, widerständiges Eck gedrängt zu werden. Und daran sieht man, wie viel Arbeit wir noch machen müssen, um diese Entscheidungen wirklich frei treffen zu können.“

Das Hygieneargument

Elisabeth Lechner hält das Argument, Körperhaare seien unhygienisch, für vorgeschoben: „Ich bin mir sicher, dass Hygienebedenken in vielen Fällen - besonders wenn sie auf sozialen Medien in Kommentaren zum Ausdruck gebracht werden - nicht der eigentliche Anlass ist für diese Kommentare sind“, sagt sie. „Das ist eher eine Art, wie man die eigene Abneigung zum Ausdruck bringen kann, ohne sofort als ganz fürchterlich gelesen zu werden. Also so: Ist das nicht unhygienisch? Da meint man eigentlich: Ich finde das nicht schön.“

Diese Abneigung hat mit den Körperbildern, die wir in der Öffentlichkeit sehen, zu tun: „Wenn mir alle Modemagazine, alle Werbungen immer nur zeigen: Das erfolgreiche, schöne, gute Leben inkludiert den dünnen, haarlosen, weißen Körper, dann hab ich das zwangsweise so gelernt“, sagt sie. „Aber sobald ich beginne, über diese Normen nachzudenken, kann ich mir überlegen: Vielleicht geht es auch anders. Vielleicht kann ich mir Zeit sparen, vielleicht kann ich mir Geld sparen.“

Glatte Haut als großes Geschäft

„Enthaarung ist Big Business“, sagt Elisabeth Lechner. Die Schönheitsindustrie überschüttet uns kontinuierlich mit neuen Methoden der Haarentfernung: Rasieren, Epilieren, Waxing, Sugaring, Lasern, the list goes on. 2008 gab es in den USA die letzte große Studie zu den zeitlichen und finanziellen Opfern, die die Enthaarung fordert: Sich rasierende Frauen gaben demnach durchschnittlich insgesamt 10.000 Dollar für Rasierprodukte aus und verbrachten insgesamt zwei Monate ihres Lebens mit der Entfernung von Körperhaaren. Frauen, die sich durch Waxing enthaaren, gaben sogar 23.000 Dollar aus. Heute kann man von noch höheren Summen ausgehen, sagt Elisabeth Lechner.

Hinzu kommt das Phänomen der Pink Tax. Das beschreibt den Zustand, dass wir für ein weiblich gebrandetes Beautyprodukt mehr zahlen als für das männlich gebrandete Pendant. Der Rasierer „für Frauen“ in hellblau oder rosa kostet mehr als der schwarze „für Männer“. Das lässt sich im Drogeriemarkt um die Ecke überprüfen.

Bitte kein Shave-Shaming

„Der Wunsch, das eigene Aussehen zu verändern, ist etwas zutiefst Menschliches“, sagt Elisabeth Lechner. Deshalb solle man Menschen, die sich enthaaren oder andere Schönheitsarbeit leisten, nicht bewerten. „Es ist ganz wichtig, dass man Schönheitsarbeit per se nicht abwertet. Schönheitsarbeit hat viel mit Fragen von Identität zu tun, die auf einer individuellen Ebene nicht zu lösen sind.“ Stattdessen will Elisabeth Lechner mit ihrer Arbeit vor allem die strukturellen Bedingungen aufzeigen und gängige Vorstellungen aufbrechen. „Ich würde mir einfach wünschen, dass wir diese Entscheidungen wirklich frei treffen könnten, ohne dass wir Konsequenzen fürchten müssen, wenn wir bestimmte Schönheitsarbeit machen oder nicht.“

Elisabeth Lechner wünscht sich, dass wir unsere Körper nicht im Hinblick auf Schönheit bewerten, sondern einen neutraleren Zugang finden. Sie spricht über Body Neutrality oder Body Freedom. Während die Body-Positivity-Bewegung sich auf ein Ausweiten der Schönheitsnormen konzentriert - in unserer lookistischen Gesellschaft auch wichtig, sagt Elisabeth Lechner - fokussiert die Body-Neutrality-Bewegung darauf, den Körper einfach als Körper, der einen durchs Leben trägt, zu verstehen. Nicht mehr und nicht weniger. „Dass wir den weiblichen und auch den queeren Körper loslösen von diesem Impuls, dass man ihn mit immer neuen Kaufentscheidungen optimieren muss. Dass wir hingehen zum Fühlen, statt zum Sehen-und-gesehen-Werden. Da ist wirklich ein riesiges revolutionäres Potenzial in dieser Bewegung.“

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