Protokoll eines von hinten aufgerollten Spaziergangs am Sziget Festival

Zwischen 70.000 und 100.000 Fans besuchen das Sziget Festival in Budapest. Eine Urlaubsoase für alle, die hungrig sind nach Livemusik und einer Flucht aus dem Alltag. Stillsitzen ist hier nicht. Ein Spaziergang auf der Island of Freedom am Sziget Festival.

Von Susi Ondrušová

Gute Nacht. Stille und Licht aus. Das erste Mal nach einem Tag auf der Island Of Freedom. So nennt sich das Donauinsel-Areal während des Sziget Festivals in Budapest. Die Vorteile eines Stadtfestivals: Zwei Mal am Tag duschen, ein Gästebett, eine Steckdose und ein Laptop am Schoß, um ein nächtliches Protokoll des ganz normalen Festivalwahnsinns zu verschriftlichen. Untertags den üblichen daily tasks nachgehen oder urlauben.

So macht es die Mehrheit der Besucher*innen hier. 30.000 Fans campen auf der Island of Freedom. Bekannterweise überall dort, wo ein Fleckchen Erde ist, teilweise nur wenige Meter entfernt vom Bühnengeschehen. Täglich zählt das Festival zwischen 70.000 und 100.000 Besucher*innen. Man kann damit rechnen, dass der letzte Tag mit Headlinerin Billie Eilish ein Höhepunkt des Schulter-an-Schulter-Stehens in diesem Festival-Sommer wird.

„It is for tourists, right?” fragt der Taxifahrer um 3 Uhr früh, als wir das Festivalgelände verlassen. Er war noch nie am Festival, aber es ist gut fürs Geschäft. Die Festival-Gäste beschreibt er als freundlicher als die Kunden, die er normalerweise vom Club aus der Innenstadt nach Hause bringt. Er liest die Ziel-Adresse von meinem Handy mit einer Lupe ab und genießt mein volles Vertrauen, fahrtüchtig zu sein.

Dem Festivalbesucher mit dem riesigen Ballon in der Hand habe ich schließlich auch vertraut, dass er weiß, wo der Festival-Ausgang ist. Dort vorne bei der Menschenmeer-Enge. Die Besucherströme werden über eine Brücke Richtung Ausgang reguliert. Stabil. Wartezeit ist BeReal Zeit. Clicky click.

Es sind nicht unbedingt nur Touristen hier, aber das Festival schmückt sich damit, Ausflugsziel für 61 Nationen aus aller Welt zu sein. „Where are you from?“ ist eine der Fragen, die man in jeder Warteschlange hören kann. Nur die Securities an der Kreuzung mit den schönen Lampion-Lichterketten müssen sich dieser Frage nicht stellen: „The most asked question is: Where is the tabacco shop? And: Where is the toilet?”

Die Bühnen findet man leicht, auf dem Weg dahin gibt es Ablenkung. Beim Bungeejumping treffe ich eine Festivalbesucher-Gruppe aus Schottland. Um zehn Uhr abends wollen sie wissen, wie sich die Adrenalin-Ausschüttung im freien Fall beim Bungeejumping anfühlt. „My partner said he wants to feel alive”. Wir einigen uns darauf, dass wir uns im Yungblud Moshpit wiedersehen. Auch eine Art der Adrenalin-Freigabe.

Bungeejumping, Riesenrad und ein eigener Rummelplatz, der nicht nur von Festivalbesucher*innen mit Kindern besucht wird. Ein Pärchen steht in der Reihe für einen „Hat Throwing Contest“. Sie kommen aus Kasachstan und sind für Florence & The Machine angereist. Drei Girlfriends aus Irland warten in der langen Schlange, um zwischen Mimi Webb und Niall Horan eine Wahrsagerin zu treffen. „I am undecisive. Just tell me what to do. Shall I get a boob job? Do I go to America?”

Ein Vierer-Grüppchen in der Warteschlange für ein „Nutcracker“-Spiel trägt gleiche Hemden mit Flammen-Muster. Dort wo ein matching outfit ist, ist auch: dicke Freundschaft, gute Planung oder lange Anreise. Sie kommen aus Neuseeland, ihr in alle geographischen Winde verstreuter Freundeskreis feiert auf dem Festival ein gemeinsames Wiedersehen. Die Flammen sind das „erste-Reihe-Outfit“ für Imagine Dragons: „Dragon’s flames, right?!“

Einer aus der NZ-Gruppe wird sich abseilen, und seine ewige Liebe für Jamie XX in der ersten Reihe ausleben. Wie aber? Nein, nicht indem er Sachen auf die Bühne wirft: „Any true fan in music & art would not do that. People have this expectation that they HAVE to be noticed! If I get a shoutout my likes and followers will go up! Please please please!”

Wir sind also bei der guten alten „Botschaft auf ein Schild schreiben“-Übung angekommen. Was wird auf seinem Schild für Jamie XX stehen? Marry me? „Naa, I would write something like ‚KEEP GOING’ He clearly landed on a winning formula and we’re all here to just dance. Jamie XX ends up on my speaker every morning. I’m dancing around my flat in my underwear. To provoke that kind of reaction from people around the world, that is something to be honored and respected. So I’d encourage him to make more art. Anything to keep going and keep being fantastic.”

BHs habe man zur Genüge Richtung Bühne fliegen gesehen, aber wie wär’s mit Blumen? Beim Gig von Florence & The Machine werfen die Fans Blumenkränze und Florence hebt sie sorgfältig auf. Ein Festivalbesucher aus Polen verspürte das große Verlangen, Rosen auf die Bühne zu werfen. Eigentlich wollte er mit seinem Freund nur für Billie Eilish kommen, aber dann haben sie sich entschieden, den Ausflug auf die vollen 6 Festivaltage auszuweiten. Sie haben sich damit abgefunden, dass die weißen Turnschuhe bei so einem Festival nicht weiß bleiben und dass „Wäsche“ erst am Mittwoch auf die Todo Liste wandern wird. Das gehört dazu.

Die Rosen wollte er auf die Bühne im Zirkuszelt werfen. Beide haben sich am Nachmittag für eine Performance im Cirque du Sziget-Zelt angestellt und waren von der modernen Zirkusakrobatik begeistert. „Sziget is mainly a music festival but we believe that by programming performing arts we make the festival more unique! Especially with contemporary circus!” meint der Programmverantwortliche für die Zirkus-Bühne am Sziget. Also keine Tiere und auch keine hintereinander gereihten Sketches, sondern Zirkusstücke, die ein Narrativ haben.

Abseits der Live-Bühnen wartet auch sonst am Sziget Festival an jedem Eck eine neue Überraschung. Und selbst, wenn man nach nichts sucht und einfach so am Boden sitzt, um in Ruhe ein Pizzadreieck zu verspeisen, kommt ein riesiges mechanisches Pferd mit einer Boombox angaloppiert. Der Gedanke im ersten Moment lautet „Was wollen die denn verkaufen?“, aber später stellt sich heraus, dass diese Pferdinstallation ebenfalls zum „Performing Arts“ Programm gehört. Es gibt auch Saurier, die durchs Gelände marschieren, Pantomime und „standing statues“ und Menschen auf Stelzen im Giraffen-Kostüm. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Im „Global Village“-Areal des Festivals passiert überall, wo eine Menschenmenge steht etwas, nach dem man sich erkundigen kann. What is this? Ein Hullahoop Workshop. Ein Salsa Workshop. Hier sind zwanzig Feldbetten mit Festivalbesucher*innen, die Kopfhörer tragen und beim „Sleeping Beauty Experiment“ zum Träumen eingeladen werden. 30 Minuten lang ausschalten um sich auf David Guettas Feuerwerk am Abend vorzubereiten.

Am Anfang ist allerdings immer dieses Anstellen. Am Merchstand kann man die Wartezeit sinnvoll für Rechenaufgaben nutzen, um herauszufinden ob 28.000 Forint für einen girl in red-Pulli teuer ist oder nicht. Manchmal kauft man sich einen Kaffee einfach nur, weil man den einen Moment erwischt, wo gerade niemand in der Schlange steht. Oder probiert eine Zuckerwatte mit Pina Colada-Geschmack aus. Um 10 Uhr beginnen hier am Sziget Festival die ersten Programmpunkte. Richtig: Es gibt Yoga! Man muss nicht alles mitmachen, aber man kann. Guten Morgen.