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Serpico, 1973, Sidney Lumet

Park Circus

FM4 FILMPODCAST

Menschen im Ausnahmezustand: Ein Tribut an Sidney Lumet

Das Filmmuseum würdigt den großen amerikanischen Regisseur – und der FM4 Filmpodcast schließt sich an. Gemeinsam mit dem Filmhistoriker Christoph Huber reden wir über ikonische Filme von Sidney Lumet.

Von Christian Fuchs

Ein dämmriges Hotelzimmer, ein nacktes Pärchen mittleren Alters, harter, verschwitzter Sex, leere Blicke. Der massige Körper, der sich von hinten an Marisa Tomei krallt, gehört dem viel zu früh verstorbenen Ausnahmeschauspieler Philip Seymour Hoffman.

Gleich diese Eröffnungsszene von „Before the Devil Knows You’re Dead“ erinnert an rohes Indiekino, fernab vom Mainstream anno 2007, dem Erscheinungsjahr dieses beklemmenden Films. Der Regisseur des düsteren Thrillers hat zu diesem Zeitpunkt aber schon eine bemerkenswerte Hollywood-Karriere hinter sich. Sidney Lumet kennt die Zwänge und den kommerziellen Druck des Filmgeschäfts. Mit 84 Jahren, als „Before the Devil Knows You’re Dead“ erscheint, interessieren ihn Kompromisse allerdings nicht mehr sonderlich.

"Before the Devil Knows You’re Dead", Sidney Lumet

Koch Media

Before the Devil Knows You’re Dead

Die Umbruchstimmung der Siebziger

Von stilvollen Agatha-Christie-Verfilmungen („Murder on the Orient Express“) über aufwühlende Holocaust-Aufarbeitungen („The Pawnbroker“) bis zu verstörenden Warnungen vor dem Nuklearkrieg („Failsafe“) reicht das Spektrum des legendären und gleichzeitig immer etwas unterschätzten Filmemachers Sidney Lumet. Seine besten Streifen verdankt er aber einer Ära, in der dokumentarisches, realistisches Kino für kurze Zeit massentauglich war.

Das pessimistische Polizistendrama „Serpico“ (siehe Titelbild dieser Story) machte den bärtigen Hauptdarsteller Al Pacino 1973 endgültig zum Star. Und auch um Sidney Lumet rissen sich fortan die Studios. Dabei war dem ehemaligen TV-Regisseur schon Ende der Fünfziger der Durchbruch gelungen. Der Gerichtssaal-Streifen „12 Angry Men“ (Die zwölf Geschworenen) heimste Oscar-Nominierungen ein und geriet bei Publikum und Kritik zum Erfolg.

So richtig entfalten konnte sich Sidney Lumet aber erst in den Siebzigern, als in (New) Hollywood eine Umbruchstimmung herrschte. Für einen kurzen Moment erlaubten die Studios beinahe alles: Nacktheit, Gewalt, Sozialkritik, pessimistische Weltbilder. Im Gefolge von „Serpico“ verfilmt Lumet die wahre Geschichte eines missglückten Banküberfalls: „Dog Day Afternoon“ (Hundstage, 1975) wird zu einer tragischen Verliererstudie, die unter die Haut geht. Abermals brilliert Al Pacino, an seiner Seite schreibt aber auch der Nebendarsteller John Cazale Filmgeschichte.

Dog Day Afternoon

Warner Bros

Dog Day Afternoon

Der Einzelne und das System

Filmpodcast

Radio FM4

#197 FM4 Filmpodcast: Tribut an Sidney Lumet

Das Österreichische Filmmuseum würdigt den großen amerikanischen Regisseur Sidney Lumet – und der FM4 Filmpodcast schließt sich an. Gemeinsam mit dem Filmhistoriker Christoph Huber reden Pia Reiser und Christian Fuchs über ikonische Filme wie „Die 12 Geschworenen“, „Serpico“ oder „Network“. Das Gespräch wurde vor Publikum im Filmmuseum aufgezeichnet.

Sidney Lumet zeigt Menschen im Ausnahmezustand, in Grenzsituationen, an Wendepunkten. Die Außenseiter:innen, die zerrütteten Existenzen, die Antihelden haben es ihm dabei besonders angetan. In seinem vielleicht besten Film, der bitteren Satire „Network“, knöpft er sich 1976 das amerikanische Fernsehen vor und enthüllt die Perversionen des Medienbusiness. Damals sprach noch niemand über Fake News, politische Einflußnahme, die Vorherrschaft des Internets und andere Probleme, die das Fernsehen heute hat.

Peter Finch spielt einen alternden Nachrichtensprecher, der seine einst guten Einschaltquoten verloren hat und deshalb vom Sender entlassen wird. Howard Beale reagiert auf unerwartete Weise. Er kündigt seine Entlassung in seiner Sendung an und fügt hinzu, dass er plant, sich in zwei Wochen live on air umzubringen. Doch niemand nimmt diese Botschaft ernst. Ausgenutzt von blindwütigen Programmmachern auf der einen und korrupten Geschäftsleuten auf der anderen Seite, wird der Anchorman schnell zum Prediger für alle fernschauenden Wutbürger:innen da draußen.

Dutzende Filme dreht Sidney Lumet in seiner langen Karriere, neben einer Handvoll Meilensteine sind darunter auch eher belanglose Auftragsarbeiten. Aber auch in vielen dieser Werke taucht die inhaltliche Handschrift des Regisseurs auf. „Es geht bei Lumet immer um das Verhältnis von Individuum und Gruppe“, sagt Christoph Huber vom Österreichischen Filmmuseum in unserem FM4 Filmpodcast. „Der Einzelne versucht, im System seine Menschlichkeit zu bewahren.“

Network, 1976, Sidney Lumet

Park Circus

Network

Familiendrama als griechische Tragödie

Zu einem Zeitpunkt, wo ihn die Kritiker schon abgeschrieben hatten, überrascht Sidney Lumet mit einem finsteren Ausflug in die Independent-Ecke. „Tödliche Entscheidung“ heißt „Before the Devil Knows You’re Dead“ auf deutschen Plakaten wenig fantasievoll. Wir blicken hinter die Kulissen einer New Yorker Middleclass-Familie. Der Buchhalter Andy (Philip Seymour Hoffman) lebt mit seiner hübschen Frau (Marisa Tomei) in einem Luxusappartement, sein Bruder Hank (Ethan Hawke) kann kaum die Miete und den Unterhalt für sein Kind bezahlen. Andy verspricht Hilfe, ein krimineller Coup soll alle Probleme lösen.

Ausgerechnet den Juwelierladen der eigenen Eltern wollen Andy und Hank ausrauben. Der Überfall geht schief, wie alles in diesem rabenschwarzen Film. In Rückblenden rollt Sidney Lumet die Wahrheit hinter der bürgerlichen Fassade auf, der dicke Andy lässt sich heimlich Heroin spitzen (unfassbare Szene!), inzwischen betrügt ihn seine Frau mit dem Bruder. Aus dem blutigen Krimi wird ein packendes Familiendrama und letztlich eine griechische Tragödie.

Pia Reiser, Christoph Huber und Christian Fuchs im Filmmuseum

Filmmuseum/Eszter Kondor

Pia Reiser, Christoph Huber und Christian Fuchs diskutieren über Sidney Lumet

Hoffman, Hawke, Tomei und Altgrößen wie Rosemary Harris und Albert Finney spielen um ihr Leben, die Story krallt sich in die Magengrube. Der alte Sidney Lumet hat ein kleines Meisterwerk geschaffen, einen weiteren Film sollte er bis zu seinem Tod 2011 nicht mehr fertigstellen. Das österreichische Filmmuseum würdigt den großen amerikanischen Regisseur nun mit einer Retrospektive – und der FM4 Film Podcast schließt sich an.

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