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Emma Stone "Poor Things"

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„Poor Things“: Emma Stone als Frankensteins Monster

In seiner modernen und schwarzhumorigen Variante von Frankensteins Monster zeigt sich Ausnahmeregisseur Yorgos Lanthimos verspielter und bildgewaltiger denn je. Großartig: Willem Dafoe als exzentrischer Wissenschafter und Emma Stone als sein Experiment.

Von Jan Hestmann

Yorgos Lanthimos macht keine halben Sachen. Wer schon einmal einen Film des auffälligen griechischen Regisseurs gesehen hat, weiß das und kann sich dementsprechend auf eine nicht allzu kleine Prise Wahnsinn einstellen. War sein Film „Dogtooth“ aus dem Jahr 2009 noch ein messerscharfes Psychodrama, in dem ein Elternpaar seine beiden Kinder abgeschottet von der Außenwelt aufzieht, wurden seine Filme nach und nach immer fantastischer und surrealer.

In „The Lobster“ spielt Colin Farrell einen Single, der schnell eine Partnerin finden muss, um nicht in ein Tier verwandelt zu werden. Auch in „The Killing of a Sacred Deer“, ein Film, der in seiner Härte und Kompromisslosigkeit lange nachwirkt, geht es übernatürlich zu. Humor mischt sich erst in Lanthimos Folgewerk „The Favourite“ hinzu, ein schräger Historienfilm, der am englischen Königshof des frühen 18. Jahrhunderts spielt.

„Poor Things“ im FM4 Film Podcast
Explizit, wild und philosophisch: Pia Reiser, Christian Fuchs und Jan Hestmann diskutieren über das vielfach ausgezeichnete Werk. Als Gast ist die Wiener Filmjournalistin, Buchautorin und Medienforscherin Nadja Sarwat dabei.

Ab Montag, 22.1.2024, 22 Uhr hier zu hören.

Und so ist Lanthimos’ neuer Film „Poor Things“ tonal noch am ehesten mit „The Favourite“ vergleichbar, denn er bleibt dem Genre des Historienfilms ebenso treu wie dem gekonnt tiefschwarzen Humor, den er zuletzt schon beweisen konnte. Und trotzdem ist „Poor Things“ wieder etwas ganz Neues geworden, nicht zuletzt aufgrund seiner spektakulären Bildästhetik und eigenwilligen Erzählform.

Die Handlung von „Poor Things“ ist im Großbritannien des viktorianischen Zeitalters angesiedelt und einem gleichnamigen Roman des schottischen Autors Alasdair Gray entlehnt. Willem Dafoe spielt den exzentrischen Wissenschaftler und Chirurgen Godwin Baxter, der die Leiche einer jungen, schwangeren Frau in der Themse findet, nachdem die sich von der Brücke geworfen hat. Vom Arbeitseifer gepackt, vollzieht Baxter Macht seines Skalpells eine skurrile Reanimation. Als Bella Baxter (Emma Stone) zieht er sie folglich gemeinsam mit seiner Bediensteten, streng von der Öffentlichkeit abgeschirmt, in seinem Haus auf.

Willem Dafoe in "Poor Things"

Searchlight Pictures

Willem Dafoe als exzentrischer Wissenschafter, der als Kind selbst als Versuchsobjekt herhalten musste.

So lebt Bella, eine Art weibliche Version von Frankensteins Monster, zwischen anderen kuriosen Versuchsobjekten, etwa einem Huhn mit Mopskopf, in den Tag hinein. Während Baxter seinen Schüler Max McCandles (Ramy Youssef) damit beauftragt, Bella auf Schritt und Tritt zu verfolgen, um Daten über sie zu sammeln, und schließlich die Idee hat, Max und Bella sogar zu vermählen, wächst der Freiheitsdrang seines menschlichen Experiments immer mehr. Bella will raus, etwas erleben. Hinzu kommt, dass sie gerade ihre Sexualität entdeckt. Und so kommt es, dass sie fliehen kann und mit dem schmierigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durchbrennt. Es folgt eine ausgedehnte Reise vor bombastisch-theatralen Landschaftskulissen, von Lissabon über Alexandria nach Paris. Inklusive einer Tanzszene auf einem Schiff, die in die Geschichte der besten Filmtanzszenen eingehen wird. Zum Niederknien.

Frankensteins Monster goes Selbstermächtigung

Im Vorfeld ist Yorgos Lanthimos’ neuer Film als eine Art feministischer Frankenstein-Film angepriesen worden. Beiden Attributen wird „Poor Things“ definitiv gerecht. Willam Dafoe ist herrlich als experimentierfreudiger wie unheimlicher Arzt, der das Skalpell locker in der Hüfte sitzen hat. Dessen Körper verunstaltet ist, weil er in seiner Kindheit oft selbst als Versuchsobjekt für seinen Vater - ebenfalls Mediziner - herhalte musste. So kann er zum Beispiel aufgrund mangelnder Magendrüsen nur an ein riesiges Gerät angeschlossen essen und verdauen.

Emma Stone in schneebedeckter Stadt

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Emma Stone spielt Bella Baxter zunächst als Kind im Körper einer Erwachsenen. Und dennoch schafft sie es, sich von den kontrollsüchtigen Männern um sich herum loszureißen. Auf ihrer Reise sammelt sie Erfahrungen, beginnt sich weiterzubilden und startet so einen rasanten Selbstermächtigungsprozess. Der führt sie schließlich in ein Pariser Bordell, wo sie ihren Kampf gegen das Patriarchat konsequent weiterführt.

„A woman plotting her course to freedom. How delightful.“

„Poor Things“ ist schwarzhumorige Science Fiction, eingebettet in einen viktorianischen Historienfilm. Ästhetisch verspielt und voller gesellschaftspolitischer Kommentare - etwa über das Verhältnis von Reich und Arm oder von Unterdrückung und Selbstermächtigung durch Sexarbeit.

In manchen Momenten scheint es etwas zu viel zu sein, was Lanthimos da alles hineinpacken will. Es ist vielleicht nicht sein allerdichtester Film. Die stattliche Gesamtspieldauer dieses überbordenden Filmkolosses - knappe 2,5 Stunden - ist zeitweise schon zu spüren. Es ist aber wohl sein ideenreichster und inspirierendster Film. Entfesselt und voller Kuriosität, und wie für Lanthimos üblich, stehen auch hier Spaß und Horror, Lachen und Schaudern, ganz dicht beieinander. Emma Stone gibt dabei definitiv eine Performance des Jahres ab, die man so schnell nicht wird vergessen können.

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