FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Gemeindewahlen

Robert Rotifer

Brexit - britische Lokalwahlen

Das Mega-Mandat

Wenn man die lokalen Council Elections als Gradmesser nimmt, dann scheint Theresa Mays „Make Britain Great Again“-Strategie eines anti-kontinentalen Trumpismus voll aufzugehen.

von Robert Rotifer

Ich war wählen gestern, dort wo ich darf, nämlich in den örtlichen Gemeindewahlen (Council Elections), deren Abhaltung schon lange vor Theresa Mays Ankündigung von Neuwahlen fürs Unterhaus feststand.

Nachdem es für mich ja wohl hier keine Europa-Wahlen mehr geben wird, ist das nun meine einzige Möglichkeit, mich demokratisch am britischen Geschehen zu beteiligen.

Britische Lokalwahlen sind nicht ganz so leicht zu deuten, da sie auf Raten, also nicht gleichzeitig im ganzen Land abgehalten werden und örtliche Eigenheiten logischerweise eine große Rolle spielen, aber generell finden sie zur Mitte einer Legislaturperiode statt (das wär auch diesmal so gewesen), und üblicherweise wird dabei die Regierung, die in dieser Phase alle unpopulären Angelegenheiten durchzieht, auf lokaler Ebene abgestraft.

Das war diesmal nicht der Fall.
Ganz und gar nicht.

Noch ist das Ergebnis nicht vollständig ausgezählt, aber so wie es aussieht, haben die Tories stattdessen massiv zugelegt.

Labour wiederum hat stark verloren, zum Beispiel an die Konservativen in Merthyr, dem Herz des ex-industriellen Wales, einer wahren Wiege der britischen Arbeiterbewegung, oder in Glasgow, ebenfalls einer ewigen Labour-Bastion, an die Scottish National Party.

Das ist für Jeremy Corbyn eine unleugbare (obwohl: Labour arbeitet daran) Katastrophe und bestätigt alle Befürchtungen für den 8. Juni auf nationaler Ebene.

Gemeindewahlen

Robert Rotifer

Die andere, große Geschichte ist die Vernichtung von UKIP. Bei Verfassen dieses Textes hat die Anti-EU-Partei alle ihre Sitze in den bisher ausgezählten Wahlkreisen verloren.

Bitte das aber nicht als Regrexit-Votum auszulegen, als einzige dezidierte Anti-Brexit-Partei haben die Liberaldemokraten nämlich ebenfalls leicht verloren. Und das im Vergleich zu ihrem miserablen Ergebnis von den Lokalwahlen 2013, als sie noch in Koalition mit den Konservativen waren und ihnen die Wähler_innen in Scharen davon liefen.

Tatsächlich liegt die ganz offensichtliche, einzige Erklärung für das UKIP-Debakel in der erfolgreichen Übernahme ihrer extremsten Agenden durch Theresa May. UKIP hat sich zu Tode gesiegt.

Douglas Carswell, der einzige Unterhausabgeordnete, den UKIP je stellen konnte, der bei diesen Unterhauswahlen nicht mehr antreten wird, erklärte heute, das Spiel sei aus für die Partei (zu der er selbst einst von den Tories übergelaufen war). Das einzige große Ziel sei nun ein „Mega-Mandat“ für May.

Und an dieser Stelle muss ich auch ein bisschen ehrlich zu mir selbst sein:

Wäre was dran an meiner alten Theorie, dass Labour mit einer klaren Anti-Brexit-Linie mehr Chancen gehabt hätte, dann hätten die Liberaldemokraten wesentlich besser, aber zumindest nicht schlechter als beim letzten Mal abschneiden müssen.

Nein, die tragische Lektion dieser Lokalwahlen ist vielmehr, dass Theresa Mays reichlich plumpe Taktik, sich als Kämpferin gegen eine feindselige Übermacht arroganter Ausländer aufzuspielen, vollends aufzugehen scheint.

Je schriller die Warnungen vor den Konsequenzen eines „harten“ Brexit, desto verbissener die Realitätsverweigerung auf der britischen Seite.

Je diktatorischer May agiert, desto lauter der chauvinistische Kanonendonner einer mittlerweile völlig außer Rand und Band geratenen Presse.

Gestern um Mitternacht etwa fiel Michael Portillo, ein ehemaliger Tory-Minister aus der Ära Thatcher, in der als gemütliches Gespräch angelegten BBC-Sendung This Week vor lauter Geifern fast vom Sofa, während er mit ausgestrecktem Zeigefinger Lionel Barber, den Chefredakteur der Financial Times, dafür zurechtwies, dass dessen Zeitung es gewagt hatte, die mögliche Rechnung für den Austritt Großbritanniens zu recherchieren und den Betrag mit 100 Milliarden Euro zu beziffern.

Eine Schande, dass „eine britische Zeitung“ sowas tue, sagte Portillo.

Wenn in der journalistischen Berichterstattung patriotische Interessen wichtiger sind als die Fakten, dann befinden wir uns praktisch im Kriegszustand.

Was Großbritannien derzeit erlebt, zeigt die Grenzen des demokratischen Systems im Kontext einer zutiefst manipulativen Medienlandschaft.

Gemeindewahlen

Robert Rotifer

Und erstaunlicherweise für das 21. Jahrhundert spielen Sprachbarrieren dabei eine entscheidende Rolle.

Interessant etwa zu beobachten, wie jener mittlerweile berüchtigte Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen vom Sonntag über das desaströse Dinner von Jean-Claude Juncker in der Downing Street sich auf Twitter unter britischen Journalist_innen in allerlei Deutungen, Zusammenfassungen und Übersetzungen verbreitete und dabei im Verlauf des Tages seine Bedeutung veränderte.

Die Story enthielt einige glaubhafte Anhaltspunkte dafür, dass Theresa May und ihr Brexit-Minister David Davis sich immer noch nicht mit den rechtlichen Schwierigkeiten des Brexit vertraut gemacht haben. Sie war, wie Joris Luyendijk richtig schreibt, kaum als Botschaft in Richtung Britannien, sondern eher als schockierte Feststellung der Irrationalität des britischen Standpunkts zu verstehen.

Detto sagte EU-Chef-Verhandler Michél Barnier in seiner hauptsächlich auf Französisch gehaltenen, sehr gemessenen Rede vom Dienstag auch kaum mehr, als dass es etwa einer zuständigen rechtlichen Instanz zum Schutz der Rechte von EU-Ausländer_innen bedürfe.

Insofern, und das hatte bisher tatsächlich noch niemand so recht überzuckert, kann es auch keine Lösung dieses Problems geben, solange Theresa May darauf besteht, ihr Land außerhalb der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs zu stellen.

Bis diese sehr pragmatische Botschaft endlich in der britischen Öffentlichkeit ankam, war sie bereits zweifach uminterpretiert worden.

Und zwar:

1) Die EU blockiert eine von den Briten angebotene Lösung des Problems von EU-Bürger_innen in Großbritannien und Brit_innen in Europa.

2) Die EU will sich in die britischen Wahlen einmischen und einen Wahlsieg Theresa Mays torpedieren.

Beides komplett gaga.

Vor allem Punkt Nummer 2, nachdem es gerade May war, die selbst zeitgleich mit Beginn der Verhandlungen diesen Wahlkampf vom Zaun trat.

Aber es braucht derzeit schon einen sehr kritischen Geist, um hierzulande ohne parallelen Konsum kontinentaler, anderssprachiger Nachrichten hinter das von Medien und Regierung gepuschte, nationale Narrativ zu blicken.

Und zuzusehen, wie erfolgreich nationale Desinformation in einer europäischen Demokratie im 21. Jahrhundert eingesetzt werden kann, das macht selbst einem abgebrühten Wahlbriten, der auch schon ein paar Fußballweltmeisterschaften aus hiesiger Tunnelperspektive miterlebt hat, dann doch ziemlich Angst.

mehr Politik:

Aktuell: