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Jünger als gestern

Ein Reader zum Popjahr der Liebe, „Younger Than Yesterday – 1967 als Schaltjahr des Pop", ist wider Erwarten akademisch und doch erfrischend.

von Boris Jordan

Angeführt von den Bestsellern von Rob Kirkpatrick (über 1969) und Jon Savage (über 1966) bringt die Popkultur im Zeitalter ihrer Musealität derzeit gerne „Jahresbücher“ heraus. Hierin soll die die Musik eines bestimmten Jahres als Dokument des Zeitgeists ausgearbeitet werden, analog zu den unterhaltsamen Geschichtsbüchern ähnlicher Art, wie sie von von Bill Bryson („Sommer 1927“) und Florian Illies („1913“) - in denen die jeweilige Zeit mittels Schicksalen und Anekdoten historischer Figuren wie Lindbergh und Sacco/ Vanzetti oder auch Hitler und Stalin in Wien skizzenhaft umrissen wird.

Man darf vielleicht die Phrase „opulentes Sittengemälde“ wieder einmal bemühen: so wurde von unseren Großmüttern ein Kolportagegenre genannt, das anhand von individuellen Allegorien und Anekdoten dem öden historischen Roman zu einem Siegeszug verholfen hat, mit Hilfe von ein wenig Sex, Crime und Romance und historisch meist hanebüchen.

Buchcover

Wagenbach Verlag

„Younger Than Yesterday – 1967 als Schaltjahr des Pop“, herausgegeben von Gerhard Kaiser, Christoph Jürgensen und Antonius Weixler, Wagenbach, Berlin

Diese „historischen Gemälde“ wurden später - als eine genügend hohe Anzahl von arbeitslosen GeisteswissenschaftlerInnen billig zu Recherchezwecken angeheuert werden konnten – historisch immer genauer, politisch und biografisch immer komplexer. Von „Sinuhe der Ägypter“ und „Desiree“ zu Luther Blissett oder Diana Gabaldon war ein langer Weg.

Vorbild für die „Jahresbücher“ ist wohl das Meisterwerk der Verdichtung: Greil Marcus‘ “ Like a Rolling Stone. Bob Dylan at the Crossroads“, das anhand eines berühmt gewordenen Lieds den gesamten gesellschaftspolitischen Kontext seiner Entstehung reflektiert.

Die Popgeschichte liebt Jahreszahlen

1968, 1977, 1982, 1987, 1991 - für jedes Genre und jede Phase der Jugend- oder Gegenkultur gibt es ein identifizierbares Gründerjahr, das „alles verändert“ haben soll. 1967, das Anlassjahr für den Reader „Younger than yesterday“, war der Generation, die es erlebt hat, schon vorher als „Sommer der Liebe“ in Erinnerung geblieben.

Die Rückbesinnung auf bestimmte Jahreszahlen löst die Liste als beliebteste Referenzmaßnahme von Popgeschichte ab. Und sie markiert ihren endgültigen Eintritt in die akademische Welt, die Welt des Kanons, die Welt der Hermeneutik, der Interpretation und Literaturkritik, bereitet von smarten, männlichen, kulturverständigen Intellektuellen.

Lemmy Kilminster dreht sich im Grab um, denn es wird von den - gemeinhin vor allem in ihren Selbstwahrnehmungen - heißblütigen und geist-skeptischen Popfans als „Niedergang“ oder „Ende“ ihres Kults wahrgenommen, wenn sich die verständnisvollen Zeichenlehrertypen erst seiner erklärend annehmen, und durch milde anerkennende Worte das Kunstsubjekt jeder Ambivalenz und Gefährlichkeit berauben.

Die Popmusik hat die Literaturseminare erobert

„Younger Than Yesterday“ ist kein Zeichen für diesen Niedergang. Die Kanonisierung und Musealisierung hat schon lange begonnen, was jede Generation wie gehabt zulässt, damit jede Generation ihre eigenen rebellierwilligen und heißblütigen Fans hervor bringt, die den Mythos nähren. Parallel dazu hat sich die Popmusik die Literaturseminare der Welt erobert, bis zum einflussreichsten Literaturseminar der Welt, einem schwedischen, das letztes Jahr einen heiseren Barden zum größten Dichter der Welt erklärt hat.

Wahrlich, ich sage euch, ihr könnt die Denim-Kutten und Kopfhörer wieder auspacken – es tut nicht mal weh.

Im Reader „Younger Than Yesterday“ befinden wir uns im Jahr 1967, wo tatsächlich ein überwiegend hoher Anteil „klassischer“ Referenzplatten der Popkultur rausgekommen ist: „Pet Sounds“, „Are You Experienced“, „John Wesley Harding“, „Velvet Underground & Nico“ und vor allem „Sgt. Pepper“ -bis zum großen Menetekel der Weiterentwicklungsideologie, das gescheiterte und nicht erschienene „Smile“ des verrückten Brian Wilson.

Jede dieser Platten wird nun zu einer Gesamteinordung der Band in die gesamte Popgeschichte genutzt, jeder Artikel ist somit auch das Verneigen eines Fans vor seinem prägenden musikalischen Phänomen. 1967 war das Jahr, in dem in den USA erstmals mehr Longplayer als Singles verkauft werden und das Jahr, in dem sich die Gründergeneration der Rockgeschichte mit Soundexperimenten, durchgehenden Themenfäden, überlangen Songs oder experimentellem Songwriting ein „oeuvre“ absteckt und sich dem klassischen Künstlerbild des Schriftstellers oder Malers angleicht.

Nach 1967 würde niemand Brian Wilson oder Paul McCartney für weniger künstlerisch inspiriert als Mahler oder Schubert halten, niemand würde Jim Morrison oder Bob Dylan das Talent zum Dichten absprechen und sogar Andy Warhols Wegwerfband-Idee sollte die allerkonstanteste Variante der „einflussreichsten band aller Zeiten“ werden. Alles was Pop bestimmt hatte, das Schreiben, das Live Spielen, das Produzieren im Studio, tritt in diesem Jahr in eine neue Phase der künstlerischen Produktion über, die prinzipiell bis zur Digitalisierung bestand haben würde

Die begabten Literaturwissenschaftler

Bis auf die Journalistin Anja Rützel und die Autorin Vea Kaiser - die beide mit brillant geschriebenen und begeisterten Artikeln über den egomanischen Männerirrsinn der Byrds und die Sexiness von Aretha Franklin hier vertreten sind - sowie das alte Pop-Autoren Wunderkind Frank Witzel sind sämtliche Autoren männliche, deutsche Gemanistikprofessoren mittleren Alters, die ihr Fantum und ihren textgeschulten Blick sämtlich gut zu verbinden wissen.

Diese Generation von Literaturwissenschaftlern ist jung genug, den fast schon kanonisierten, speziell personalisierten Schreibstil der Popkritik seit Lester Bangs inhaliert zu haben und versiert genug, ihn mit gelehrtem, akademischem Stil zu vermengen. Das geht manchmal gut, sodass sich das Buch erstaunlich flüssig liest, produziert anderenorts einen speziellen papierenen Jargon, den zum Beispiel der ehemalige Popkritiker Jan Kedves in der „Süddeutschen Zeitung“ nicht aushält und als zu „dröge“ für das so spannende Popjahr 1967 befindet.

Trotzdem, diese Anthologie liest sich vor allem gut. Gelehrt, genau, witzig, mit Referenzen an die Avantgarden der Kulturgeschichte von Villon bis Queneau, von Blake bis Kesey - man fühlt sich wie in der Gesellschaft pfeiferauchender Wissender, Conaisseure, die zusätzlich ein verwaschenes Band-T-Shirt tragen. Das klingt alles jetzt weit unsexier, als es ist, und uninteressanter, denn als Erstaunlichstes kommt noch dazu: Dafür, dass es sich bei den besprochenen Bands und Alben um die ziemlich meistbesprochenen Werke des ganzen Popkanons handelt, gelingt es hier weitgehend, noch viele Zitate, Namen, Anekdoten, Platten und Referenzen hinzuzufügen, sodass auch kulturhistorisch versierteren LeserInnen immer wieder Neues entgegen kommt.

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