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Zugfenster, es schneit

CC0

mit akzent

Alle Menschen werden Brüder

Wir steigen gegen 2 Uhr mittags in den Zug. Einen Augenblick bevor der Zug losfährt, hören wir einen Riesenlärm wie eine sich nähernde Husarenreiterstaffel.

Von Todor Ovtcharov

An der Tür des Abteils steht eine australische Familie. Die Familie besteht aus einem rosawangigen Buben, einem Mädchen in einer rosa Jacke, einer rosawangigen Mama mit einem noch rosawangigeren Baby im Arm und einem Papa, der sehr laut lacht. Jedes Mal, wenn der Papa lacht, öffnet das Baby seine Augen. Zuerst denke ich, dass das Baby aufgrund des dröhnenden Lachens, das sich wie ein rollendes Fass anhört, nicht einschlafen kann, doch es scheint ihm nichts auszumachen.

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Wir fahren von Wien nach Budapest. Der Papa fragt uns, wann wir endlich die Grenze erreichen, denn er weiß, dass die ungarische Grenze strengstens bewacht wird. Wir müssen ihn enttäuschen, als wir ihm erzählen, dass die Grenze praktisch nicht existiert. Der Papa lacht laut und glaubt, dass wir Scherze machen. Ich erkläre ihm, dass die Grenze, die bewacht wird, die Schengenaußengrenze, sich auf der anderen Seite von Ungarn befindet. Von dort kommen die gefährlichen Personen. Er schüttelt nur den Kopf und hofft, dass ich mich irre. Als wir plötzlich in Ungarn sind, lacht er spöttisch über uns. Er erzählt uns von seiner Lieblingsfernsehsendung mit dem Titel „Border Security: Australia’s Front Line“, einer Show, die das Leben der Grenzbeamten in Australien verfolgt.

Dort schieben heldenhafte Männer und Frauen Inder ab. Sie finden Kokain in „Pu der Bär“-Kostümen und haben nicht mal einen argentinischen Fußballcoach reingelassen, da seine Fußballschuhe mit Erde schmutzig waren und er damit den australischen Boden kontaminieren könnte. Ich meine, dass solche Serien von der Regierung produziert werden, um das Image der Grenzbehörden herauszuputzen. Der Papa lacht ungläubig, warum wird dann die Show in den USA, in Europa und in Kanada gezeigt? Ich bleibe leise, ohne ihm zu sagen, dass die Ängste, mit denen alle Regierungen die Bevölkerung einschüchtern wollen, wohl die gleichen sind. Der Australier klopft mir auf die Schulter, so kräftig, dass ich später nachschauen muss, ob ich nicht einen blauen Fleck bekommen habe.

Der Papa schlägt sich auf die Stirn und sein Kopf dröhnt wie eine Kirchenglocke. Er holt aus seinem Koffer Sekt und Gläser und verteilt sie an alle. Der Bub und das Mädchen fangen an zu zählen: 5,4,3,2,1! Danach küssen sie sich und uns. In Australien ist das neue Jahr eingetreten. Der Papa lacht. Auf einmal fangen alle zu singen an - „Ode an die Freude“. Der Papa zwinkert mir zu. Er glaubt, dass dieses Lied von Beethoven im Auftrag der EU geschrieben wurde. Alle Menschen werden Brüder...

Am Bahnhof in Budapest hören wir noch lange das Lachen des Papa. Frohes Neues Jahr, liebe Leserinnen und Leser!

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