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Alois Mock (l.), Österreichs Außenminister und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn beim Durchtrennen des Eisernen Vorhanges am 27. Juni 1989

Robert Jäger / APA / picturedesk.com

Grenz-Positionen

Vor 30 Jahren fiel am Grenzübergang Klingenbach/Sopron der Startschuss für das Ende des Eisernen Vorhangs. Ein Rundgang zwischen Ost und West.

Von Albert Farkas

Heute, am 27. Juni 2019, gehört die Bewunderung der zehntausenden Ungarinnen und Ungarn, die sich in Sopron versammelt haben, einem Helden von 1989. Jemandem, der die Welt vor 30 Jahren nachhaltig verändert hat. Nein, nicht dem damaligen österreichischen Außenminister Alois Mock oder seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn, die weiland medienwirksam mit Bolzenschneidern Löcher in den Stacheldrahtzaun gezwickt haben. Sondern Ex-Guns’n’Roses-Gitarrist Slash, der den zweiten Tag des gerade stattfindenden Volt-Festivals am Rande der Stadt headlinet.

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Zu Nostalgie für die Beendigung der Sowjetherrschaft fühlen sich die Einheimischen, die beim Volt – Ticketstand anzutreffen sind, nicht aufgelegt.

Die Folgen der kapitalistischen Schocktherapie

„Nichts ist besser geworden seit 1989, gar nichts“, sagt Sándor. Der 51-jährige Soproner, der fast täglich für seinen Verkaufsjob nach Wien pendelt, beklagt den seit 30 Jahren anhaltenden, ungebremsten Zugriff der kapitalistischen Marktlogik auf sämtliche Aspekte des ungarischen Gesellschaftslebens – ein Zustand der Dauerbelagerung, der sich in einer die Löhne auffressenden Inflation, ausgehöhlten Arbeitnehmer*Innenrechten, minimalen staatlichen Sozialleistungen und Abwanderung niederschlägt.

Entwicklungen, deren negative Auswirkungen sich für ihn auch durch die seit 1989 gewonnenen Freizügigkeiten nicht aufwiegen lassen. „Natürlich, das Reisen ist einfacher geworden. Aber die Menschen, die ich hier [in Sopron] sehe, leben nicht einfach. Sie kämpfen jeden Tag um’s Überleben.“ Für Sandór ist das Konzept der Völkerverständigung innerhalb eines Wirtschaftssystems, das seine Beteiligten auf soziale Kontakte als rein sachbezogene Transaktionen drillt, eine Schimäre. „Die österreichische Bevölkerung sucht keinen Kontakt zur ungarischen Bevölkerung. Und die ungarische Bevölkerung sucht nur Arbeit in Österreich, aber keinen Kontakt zur österreichischen Bevölkerung. Und die ungarische Regierung sucht sowieso nur Feinde, und keine Freunde“, hält er desillusioniert fest.

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Das Ödenburger Gebirge (Soproni hegység), durch das die Grenze zwischen Klingenbach und Sopron verläuft, liegt am Rande des ungarisch-österreichischen Nationalparks Neusiedler See

West-Ost - Gefälle

Auch mit der vielgepriesenen Reisefreiheit ist es indes nicht so weit her. Erst im vergangenen Herbst sperrte die burgenländische Landespolizei im Zuge der restriktiveren Grenzpolitik der verflossenen türkis-blauen Bundesregierung formal mehr als die Hälfte der burgenländisch-ungarischen Grenzübergänge für den Autoverkehr. Der Transit konzentriert sich seitdem auf die verbliebenen, oft staugeplagten, Nadelöhre.

Was für die burgenländische Bevölkerung, die (mit Ausnahme des Durchzugsverkehrs durch das zwischen dem Nord- vom Mittelburgenland liegende Soproner Zwickel) nur sporadisch und hauptsächlich zu Freizeitzwecken nach Ungarn fährt, eine vernachlässigbare Unannehmlichkeit darstellt, bedeutet für die 21.000 ungarischen Pendler eine tägliche Tortur und Erniedrigung. Während Ungarn selbst das Privilegiengefälle der europäischen Bevölkerungen von West nach Ost an seiner Grenze zu Serbien mit einer 175km langen Barriere in Maschendraht festspult, deutet Österreich es mittels der fortlaufenden Schengen-Aussetzung an.


Grenz-Gesinnungswandel

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Auch unter den Einwohner*Innen des zehn Kilometer von Sopron entfernten Grenzorts Klingenbach erfreut sich die Idee der gänzlichen Grenzenlosigkeit nicht vorbehaltlosen Zuspruchs. Durch die verstärkten Ankünfte von Asylwerber*Innen vor vier Jahren haben sich manche von ihnen zu einer Neubewertung ihrer Einstellung zur Grenze bewogen gefühlt, weg von der Gleichgültigkeit, die seit dem Schengen-Beitritt Ungarns 2007 wie der logische Endpunkt erschienen war. Heute ist die Grenze wieder etwas wichtiger.

„Eine gewisse Grundordnung muss sein“, meint zum Beispiel Andreas, der als AMS-Bediensteter arbeitet, am Rande des sonntäglichen Sommersonnwendfrühschoppens in der Klingenbacher Jubiläumshalle. „Man soll jedem helfen, der Hilfe braucht, aber so unkontrolliert, wie 2015 die Flüchtlingskrise passiert ist – das vermittelt keinen guten Eindruck.“ Jasmin und Julia vom Jugendmusikverein Klingenbach, der bei ebenjenem Frühschoppen aufspielt, befürworten zumindest die Beibehaltung stichprobenartiger Fahrzeugkontrollen. Immerhin, ihr Blasorchester kann sich als exemplarisch für das Ideal des fortwährend zusammenwachsenden Europa herzeigen lassen, indem es partnerschaftliche Bande mit einer Freundschaftskapelle im Sopron unterhält, und sich mit dieser deren - ungarischen - Kapellmeister teilt.

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Ein weiterer Berühmtheitsgrund Klingenbachs neben seiner räumlichen Nähe zum Grenzdurchschnitt am 27. 6. 1989: Es ist die kleinste Gemeinde, die jemals von einem Bundesligaverein vertreten wurde. Spielstätte des ASKÖ Klingenbach, heute in der 2. burgenländischen Landesliga tätig, ist das passend benamte Grenzstadion.

Rad auf Draht

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Eine andere symbolträchtige Verschlussnaht zwischen den einstigen „Systemfeinden“ Österreich und Ungarn ist der Iron Curtain Trail. Dieser Fernradweg mit dem Kennzeichen EV13 folgt dem Verlauf des ehemaligen Eisernen Vorhangs quer durch Europa, und soll sich nach seinem Endausbau auf eine Länge von 7650 Kilometern von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer erstrecken. Der burgenländisch-ungarische Abschnitt ist 2014 angelegt worden. Hier verbindet er eine Reihe für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutsame Ortschaften wie Andau, Schattendorf und eben Klingenbach-Sopron.

Einer, der den Radweg für sich entdeckt hat, ist Max, 30, aus Leipzig. Max ist als Journalist beim MDR tätig, und engagiert sich darüber hinaus im Rahmen der politischen Bewegung „Aufbruch Ost“ für ein neues zivilgesellschaftliches Selbstbewusstsein der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Er befindet sich tatsächlich nicht für das Volt-Festival in Sopron, sondern deswegen, um von dort aus per Drahtesel die Gedenkstätte für das Paneuropäische Picknick bei St. Margarethen zu besuchen, infolgedessen im August 1989 mehr als 600 seiner Landsleute über Ungarn und Österreich in die BRD geflohen sind, und damit die sich auftuenden Lücken im Eisernen Vorhang mit Leben erfüllt haben. Für ihn, der sich weder in durch die anhaltende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Ost und West bedingte Verbitterung ergehen, noch sich von unkritischem Einigungsjubel anstecken lassen möchte, mehr als eine Grenz-Sightseeing-Jagd nach nostalgisch stimmenden Fotomotiven: „Das passt super, um sich gerade in dieser Zeit mit den Idealen, aber auch Enttäuschungen der ‘89er-Bewegung zu beschäftigen.“

Leben an der österreichisch-ungarischen Grenze

Albert Farkas

Freiluft-Ausstellung in Sopron zur Geschichte des paneuropäischen Picknicks

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