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Stig Sæterbakkens letzter Roman: „Durch die Nacht“

„Durch die Nacht“ lautet der Titel des letzten Romans des norwegischen Schriftstellers Stig Saeterbakken. Er verhandelt eine menschliche Tragödie. Karl Ove Knausgard bezeichnet Saeterbakken als „einen der wichtigsten Autoren meiner Generation“.

Von Lisa Schneider

„Verdammte Scheiße“. So die ersten Worte im gerade ins Deutsche übersetzten, letzten Roman des norwegischen Schriftstellers Stig Sæterbakken. Er spricht damit die Trauer an, mit der sein Protagonist Karl konfrontiert ist.

Trauer tritt in so vielen Formen auf. Sie ist wie ein Licht, das ein- und ausgeschaltet wird. Sie ist da, sie ist nicht auszuhalten, dann verschwindet sie, weil sie unerträglich ist, weil man sie nicht permanent ertragen kann. Man wird gefüllt und geleert.

Eine unfassbare Tragödie

Karl ist ein 45-jähriger Zahnarzt, dessen Sohn, Ole-Jakob, sich das Leben genommen hat. Er war erst 18 Jahre alt. Die Leser*innen lernen die verbleibende Familie Meyer kurz nach ihrem Verlust kennen. Stine, Karls Tochter, hat aufgehört zu sprechen. Eva, seine Frau, wird durch ihre Trauer phasenweise gestärkt, um dann, mit dem Staubsauger in der Hand, am Boden zusammenzubrechen. Es ist die Beschreibung einer unfassbaren Situation.

Es gab so vieles, das ich nicht verstand. Die Brutalität überall. Im Supermarkt die Art, wie die Leute ihre Einkaufswagen vor sich herstießen, wie sie im Tiefkühlregal herumwühlten oder wie sie sich hinten am Gemüse so laut unterhielten, als ob ich nichts geschehen wäre." Für alle dreht die Welt sich weiter. Für Karl und seine Familie ist sie stehengeblieben.

Der Grund von Ole-Jakobs Selbstmord bleibt vorerst unklar. Je länger man weiterliest, desto mehr überwiegt die Frage nach der Schuld die Trauer.

Karl hat Eva verlassen, um seine Affäre mit der 28-jährigen Mona zu vertiefen. Die Kinder wissen, warum ihr Vater die Familie allein gelassen hat, und wenden sich von ihm ab. Als sein oft naiv beschriebenes Begehren nach der jüngeren Frau abflacht, erkennt Karl, was er verloren hat. Dass die Geschichte großteils auf Erinnerungen, Gefühlen und der Sichtweise Karls erzählt wird, macht ihn nicht immer zur sympathischen Erzählfigur. Es scheint zu einfach, dass seine Frau ihn wortlos wieder zurücknimmt. Passagenweise arbeitet sich Sæterbakken stark an Stereotypen ab.

Und um nicht immer nur Karl Ove Knausgård zu sagen: weitere Norwegische Buchtipps

  • Tomas Espedal - „Wider die Natur“
  • Hanne Ørstavik - „Als ich gerade glücklich war“
  • Linda Boström Knausgard - „Willkommen in Amerika“
  • Johan Harstad - „Max, Mischa und die Tet-Offensive“

Knausgårdesk

Karl Ove Knausgård wird am Buchrücken von Stig Sæterbakkens Roman „Durch die Nacht“ zitiert: „Einer der wichtigsten Autoren meiner Generation“. Ein Vergleich mit dem Werk des aktuell wichtigsten norwegischen Schriftstellers drängt sich also auf und hält an vielen Stellen stand. Karl Ove Knausgård hat auf gut 4.000 Seiten seine Autobiographie niedergeschrieben; liebt man sie, liest man sie nicht nur als sehr detailreiche Abhandlung seines (Seelen-)Lebens, sondern als poetische Erfassung aller Momente, die sein Dasein ausmachen. Hasst man sie, wird man ihr Monotonie und Egozentrik vorwerfen und sie als banale Alltagsbeschreibung abtun.

Vorweg: Mag man Karl Ove Knausgårds Schreibstil nicht, wird man dem von Stig Sæterbakken ebenso wenig abgewinnen. Wie Knausgård lebt er im Moment, gräbt sich tief in jede Spalte noch so kleiner Ereignisse.

Und wieder einmal tauchte der alte Gedanke in mir auf, der uralte Traum, der unmögliche Traum: Alles loslassen, weggehen, ein anderer werden, alles hinter sich zurücklassen, noch einmal ganz von vorn anfangen, unbelastet, ohne eine einzige Verbindung zu dem, was einmal war. Nicht spurlos verschwinden, aber spurlos auftauchen.

Was aber nicht heißen soll, dass im Roman „Durch die Nacht“ nicht viel passiert. Auf knappen 300 Seiten erzählt Sæterbakken die Geschichte einer Familie, einer Ehe, einer Affäre - und dem schließlichen Zusammenbrechen aller wichtigsten Pfeiler, die Karls Leben ausgemacht haben.

Cover Stig Sæterbakken "Durch die Nacht"

Dumont

„Durch die Nacht“ von Stig Sæterbakken erscheint in einer deutschen Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig im Dumont Verlag.

2012, kurz nachdem sein Roman „Durch die Nacht“ im norwegischen Original erschienen ist, hat sich Stig Sæterbakken im Alter von 46 Jahren das Leben genommen. In einem seiner vielen Essays, „Sacred Tears“ (der aktuell nur in englischer Übersetzung vorliegt), hat er kurz vor seinem Tod geschrieben:

How strong would our passions be, separated from our fear of dying? We want to live, sure. But we want to die as well. We want to be torn apart. We want to drown in the wonders of ecstasy.

In seiner Romanfigur Karl lassen sich die oben genannte Zerrissenheit und gleichzeitig die in Sæterbakkens Werk immanenten immer wiederkehrenden, existenzialistischen Fragen finden. Schmerz und Hässlichkeit des Daseins stehen der Schönheit des Moments als Paradoxon gegenüber.

Wenn das unerträgliche Dasein ins Surreale kippt

Im dritten Teil des Romans entfernt sich Stig Sæterbakken von der realistischen Erzählweise. Die Geschichte kippt ins Surreale: Karl reist auf Anraten seines ominösen Freundes Boris nach Bratislava. Dort gäbe es ein Haus, in dem man mit den schlimmsten Ängsten seines Lebens konfrontiert würde.

Laut Boris gab es Menschen, die behaupten, dort gewesen und um vieles erleichtert wieder herausgekommen zu sein, von allem kuriert, was ihnen das Leben schwer gemacht hatte, froh und munter, ohne eine einzige Angst im Leib. Sie hatten das Schlimmste gesehen, und danach konnte ihnen nichts mehr Angst einjagen. Andere, sagte er, seien mit hässlichen verzerrten Gesichtern zurückgekommen, so heftig, dass ihre Angehörigen Mühe gehabt hätten, sie zu erkennen.

Karl betritt das besagte Haus. Das Schaurige weicht dem scheinbar Unmöglichen. Er durchlebt einen Alptraum im Wachzustand, bevor sich seine Geschichte in Gedankenfetzen auflöst.

Und ganz am Ende erinnert sich Karl an eine Geschichte, die er seinem damals noch kleinen Sohn immer vor dem Einschlafen erzählt hat. Ein Märchen, das er selbst erfunden hat, es handelt von einem verwunschenen Prinzen. Der Schluss des Märchens lautet wie folgt:

Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, mein Sohn“, antwortet der König. „Was auch geschehen mag, ich werde da sein und auf dich aufpassen. Wohin deine Wege dich auch führen mögen, ich werde dich beschützen. Tag für Tag und durch die Nacht.

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