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Gitarre, Koffer und Plattenkartons

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Deine Band zahlt für den Brexit

Die britische Regierung wird ab nächstem Jahr eine Visumspflicht für Musiker*innen aus der EU einführen. Die Bedingungen dafür sind erwartungsgemäß vollkommen weltfremd.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Eigentlich wollt ich das Thema hier der eigenen mentalen Gesundheit zuliebe noch ein bisschen vor mir herschieben (hysterische Stimme aus dem Off: „Genau das Falsche!“), aber nachdem auf meinen Timelines schon die Aufregung steigt, muss der Empörungs-Opportunist sich da noch unbedingt rechtzeitig draufsetzen. Ist ja auch wirklich ein ernsthafter Anlass:

Ja, sie haben es tatsächlich getan! Nachdem die britische Musikszene sich über dreieinhalb Jahre vorsagte, dass es so schlimm schon nicht werden würde, ist die Hardcore-Innenministerin Priti Patel vor zwei Tagen nun endlich mit den Infos über ein Visum für Musiker*innen aus aller Welt, einschließlich der EU, rausgerückt, nachlesbar hier auf der Website der britischen Regierung.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Da steht zum Beispiel, dass man künftig als Bedingung für so ein Visum (das pro Person 244 Pfund, also knapp 290€ kosten wird) nachweisen müssen wird, vor der Anreise 90 Tage lang mindestens 950 Pfund (etwa 1.100€) auf dem Konto gehabt zu haben.

Bedürftige Musiker*innen will Großbritannien künftig lieber nicht spielen sehen.

Diese Schikane ließ sich nur umgehen, indem ein zertifizierter britischer Sponsor für den Unterhalt während des Aufenthalts garantiert. Brauchen tut man so einen Sponsor auf jeden Fall, sonst gibt’s kein Visum.

Volle Offenlegung: Ich bin kein Anwalt, und habe noch kein*e Anwält*in dazu befragt, weiß daher nicht, was es bedeutet, dass ich auf der derzeitigen Liste der vom Home Office zertifizierten Sponsoren keine Veranstalternamen finden konnte.

Aber auch aus den bisherigen Artikeln, die über die Geschichte kursieren, nämlich von Politico und dem Independent ist das nicht so eindeutig rauszulesen. We’ll keep you posted.

So oder so stellt diese schon in zehn Monaten in Kraft tretende Regelung für alle Bands aus der EU, die in Großbritannien spielen wollen - oder britische Bands in Europa (die EU wird zweifellos reziprok antworten) - eine ultradestruktive Bombe dar, die einen tiefen Krater in der schönen Welt der kulturellen Völkerverständigung mit musikalischen Mitteln hinterlassen wird.

Eine Ahnung davon, wie die Regierung auf diese hirnverbrannte Idee kommen konnte, vermittelt dieser Thread samt Link von der Einwanderungsrechtlerin Alex Piletska:

Der Brexit wird Großbritannien einen Haufen Geld kosten, das die Regierung sich zumindest teilweise von Ausländer*innen wieder zurückzuholen versucht, die keine Mittel zur Beschwerde oder Vergeltung auf demokratischem Wege haben.

Die gute Nachricht ist, dass es immer noch um ein Vielfaches billiger kommt als in den USA (Sarkasmus!).

Eine Teilschuld an dem Wahnsinn trägt, das sei einmal angemerkt, auch die Argumentation seitens der Vertreter*innen der sogenannten Creative Industries, die immer darauf hinweisen, was für ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der musikalische Austausch über den Kanal hinweg nicht sei.

Ist ja alles richtig, aber es nährt den weit verbreiteten Irrglauben, das internationale Konzertwesen wäre eine slicke Gelddruckmaschine.

In Wahrheit funktioniert, wie du, ich und unsere Freund*innen sehr gut wissen, ein Großteil dieser Gigs einzig auf Basis der informellen Selbstausbeutung. Ein Gig im Londoner Hipster-Lokal Old Blue Last zum Beispiel bringt 50 Pfund Gage für die Vorband, 100 für die Hauptband (einiges mehr dazu nächste Woche in meiner Serie für das Ö1 Radiokolleg), für eine Band mit, sagen wir, vier Mitgliedern sind also rund €1150 eine Hürde, die sich kaum wieder einspielen lässt.

Wenige werden das Glück haben, dass ihre Kulturforen oder Förderorganisationen ihnen zu einem gewissen Grad finanziell aushelfen können, machen werden wie in Amerika als U-Boote anreisen und sich Instrumente borgen. Mit dem Risiko, von den Behörden wieder nach Hause geschickt zu werden.

Die meisten aber werden einfach drauf pfeifen.

Und was das für international positionierte Festivals wie The Great Escape in Brighton bedeuten wird, lässt sich bereits erahnen.

Gitarre, Koffer und Plattenkartons

Robert Rotifer

Gitarre und Merch reisebereit - Kontostand auch?

Wer eine Ahnung davon haben will, wie rückwärtsgewandt und weltfremd die Vorstellungen der britischen Regierung sind, darf herzlich darüber lachen, dass die Anreise für „auditions“ Visa-frei erlaubt sein soll.

Vielleicht ist ja die Lösung, dass man künftig behauptet, man habe bloß ein öffentliches Vorspielen veranstalten wollen (Sarkasmus!!).

Immerhin schreibe ich das alles hier nicht aus Eigeninteresse, denn als Besitzer eines EU-Passes und des britischen Settled Status werde ich selber von diesen Kosten verschont bleiben. So selbstverständliche, rasend subversive Aktionen wie die simple, beglückende Idee meine Band nach Wien mitzubringen und mit ihr und österreichischen Musiker*innen dort, wie 2018 geschehen, gemeinsam das neue André Heller-Album einzuspielen, wären aber plötzlich eine verdammt teure bis unmögliche Angelegenheit.

Und das Problem des Registrierens von Instrumenten (Angst und Schrecken erregendes Stichwort Carnet) bzw. des Verzollens von Merch, haben wir dabei noch nicht einmal berührt.

Das einzige, was hilft – und hier sind schon Aktionen in Planung, zu spät aber doch – ist, ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen, das vielleicht, vielleicht, vielleicht doch noch genügend öffentlichen Druck erzeugt.

Die Lektion bleibt: Glaubt niemals den Leuten, die sagen, dass es schon nicht so heiß gegessen wird wie gekocht. Sie haben keine Ahnung, und wir alle werden uns noch gehörig die Zungen verbrennen.

UPDATE aus dieser Guardian-Story, das Home Office und Deborah Annetts von der Incorporated Society of Musicians sind sich uneins über die Auslegung der neuen Visumsvorschriften. Zitat:

The Home Office points to paragraph 25 as the relevant section for musicians which states performers are allowed entry without a visa for up to six months and “can receive payment for appearances at certain festivals or for up to a month for a specific engagement, without the need for formal sponsorship or a work visa”.

Annetts says this is “a misrepresentation” of the current visa arrangements for non-EU citizens as those who want to come up to a month have to get what is known as a permitted paid engagement visa which requires an advance engagement letter.

“To get into the country for 30 days as a musician from the EU as from January 2021 you will at the very least need a letter of engagement,” she said. “It is not at all clear what type of organisation is qualified to give such a letter. And you will need supporting documents such as bank statements. Neither of these are required for EU musicians at the moment.”

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