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In „Wie die Schweine“ verschieben sich Moralvorstellungen

Alle Tiere werden von einem Virus befallen und Tierfleisch damit tödlich. Ohne Fleisch leben will diese Gesellschaft aber nicht. Als immer mehr Immigrant*innen und Obdachlose verschwinden und gegessen werden, reagiert die Regierung: Es werden Menschen zum Verzehr gezüchtet. Die argentinische Autorin Agustina Bazterrica schildert, wie Schockierendes gewöhnlich wird.

Von Lena Raffetseder

Marcos ist Produktionsleiter in einem Schlachthof. Er trifft Züchter*innen, wickelt Lieferungen ab, überblickt den Schlachtungsprozess und überprüft die Qualität der Menschen, die im Roman zynisch „Deckhengst und Weibchen“ genannt werden. Alles ist Routine, Tod im Akkord. Fast könnte man vergessen, dass es sich hier nicht um Tiere handelt.

Erst waren es die eingeschweißten Hände irgendwo am Rand, versteckt zwischen Schnitzeln in Kräuterpanade, Bürgermeisterstück und Nieren. Auf dem Etikett stand Spezialfleisch und darunter die Erläuterung „Obere Extremitäten“, um das Wort „Hand“ zu vermeiden.

Buchcover "Wie die Schweine"

FM4/Jan Hestmann

Die Originalausgabe aus dem Jahr 2017 heißt „Cadáver exquisito“. Matthias Strobel hat den Roman aus dem Spanischen übersetzt. „Wie die Schweine“ ist im Jänner bei Suhrkamp erschienen.

Schreckliche neue Normalität

Die als Nahrung gezüchteten Lebewesen als „Menschen“ zu bezeichnen, ist in der Welt von „Wie die Schweine“ verboten. Marcos nennt sie „Stücke“. Gleichberechtigt werden sie schließlich nie sein, sie sind nur essbare Produkte. Sie haben keine Namen. Bei der Geburt werden sie gebrandmarkt, ihre Stimmbänder entfernt. Marcos geht davon aus, dass die „Stücke“ nichts verstehen und nicht denken können.

Marcos hadert mit dem neuen System. Der tödliche Virus ist für ihn nur eine Inszenierung von Regierung und Industrie, um von anderen Problemen abzulenken und daraus Profit zu schlagen. Die Überbevölkerung wurde gestoppt und da arme Menschen zuerst gegessen wurden, ist auch die Armut zurückgegangen. Am Anfang des „Übergangs“ gab es noch Widerstand:

„Es kam zu Massenprotesten, Hungerstreiks, einem Aufschrei der Menschenrechtsorganisationen. Gleichzeitig wurden Studien und Berichte lanciert, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Renommierte Universitäten behaupteten, tierische Proteine seien lebenswichtig, Ärzte argumentierten, pflanzliche Proteine enthielten nicht alle essenziellen Aminosäuren, Experten versicherten, die Emission von Treibhausgasen habe sich zwar verringert, dafür aber die Mangelernährung zugenommen.“

Den moralischen Kompass umpolen

Das Essen von Menschen mit Vor- und Nachnamen ist so streng verboten wie Sklaverei. Jemanden zu kaufen ist nur dann legal, wenn man die Person nicht für sich arbeiten lässt, sondern isst. Agustina Bazterrica zeigt auf extreme Weise, wie sich die Moralvorstellungen einer ganzen Gesellschaft verändern. Auch hier gibt es Mitläufer*innen, profitgetriebene Sadist*innen und leise Kritiker*innen. In welche Gruppe Marcos gehört, ist nicht eindeutig. Und wird auch nicht klar, als er ein „Weibchen“ geschenkt bekommt.

„Wie die Schweine“ ist wie ein Einblick in ein schief gegangenes psychologisches Gruppenexperiment – und damit sicher nicht für alle geeignet. Der mitreißende Roman ist eine Horrorvorstellung der Zukunft, schrecklich nüchtern erzählt. Bazterrica klagt nicht an und ist nie belehrend. Stattdessen zeigt sie, wie unglaubliche Ideen plötzlich normal werden können. Das Ergebnis ist eine Welt, in der die Menschen nichts mehr davon abhält, sich gegenseitig zu essen.

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