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Migrantenfamilie an türkisch-griechischer Grenze

APA/AFP/Ozan KOSE

Griechenland-Türkei: Wir wissen eigentlich, wie es geht.

Die Entscheidung der türkischen Regierung, Schutzsuchende, die nach Europa wollen, nicht mehr daran zu hindern, hat eine neue Debatte über Migration ausgelöst. Wir haben mit der Kulturwissenschaftlerin und Podcasterin Judith Kohlenberger darüber gesprochen.

Von Gersin Livia Paya

Flucht und Migration sind überall auf der Welt Realität. Zur Krise werden sie, wenn sie an Europas Grenzen stattfinden. Die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ist eine Land- und Seegrenze. An der griechisch-türkischen Grenze sind erschreckende Szenen zu beobachten: Mit Gummigeschossen und Tränengas wird auf Flüchtlinge geschossen, Menschen sind bereits gestorben. Die Entscheidung der türkischen Regierung Schutzsuchende, die nach Europa wollen, nicht mehr daran zu hindern, hat eine neue Debatte über Migration ausgelöst. Wie verhält sich die EU? Und sind die Menschenrechte in Gefahr? Darüber haben wir mit der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger gesprochen.

Foto Judith Kohlenberg

Raimo Rudi Rumpler

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Humankapital und Bildung, Frauen und Flucht, und globale Krisennarrative. Sie unterrichtet an der WU Wien und der FH Wien, betreibt den Podcast „Worum Geht’s?“ und schreibt regelmäßig für den FALTER.

Gersin Livia Paya: Was passiert an der griechisch-türkischen Grenze?

Judith Kohlenberger: Es ist zu beobachten, dass geflüchtete Menschen als Druckmittel eingesetzt werden. Was wir hier sehen, sind die Konsequenzen einer nicht existenten EU Migrationspolitik der letzten 5 Jahre.

Seit der Schaffung des EU-Türkei Deals hat man im Grunde sehr wenig getan um ernsthafte Asylpolitik auf EU-Ebene zu betreiben, man hat die Grenzpolitik zum Großteil an Drittstaaten wie die Türkei externalisiert. Und man hat darauf vergessen, dass Migrationspolitik mehr ist als Grenzschutz. Das hat zu einer auf Dauer nicht tragbaren Situation geführt. Es zeigt sich nun, dass der Deal sehr volatil ist und keine nachhaltige Lösung bietet, die Konsequenzen dessen erleben wir derzeit an der griechisch-türkischen Grenze.

Sie sagen: „Es ist mehr als nur ein Grenzschutz.“ Wieviel mehr als ein Grenzschutz ist denn die Migrationspolitik?

Eine ernst gemeinte Migrationspolitik auf europäischer Ebene müsste mehrere Faktoren miteinbeziehen. Natürlich gehören Grenzkontrollen dazu, da geht es um Registrierung und Identifikation jener Menschen, die nach Europa kommen. Auch um Rechtspopulisten das Argument vorwegzunehmen, dass mit diesen vielen schutzsuchenden Menschen auch der eine oder andere Terrorist ins Land kommen würde. Eine registrierte und kontrollierte Form der Fluchtmigration ist sinnvoll.

Was wir daneben aber auch brauchen, ist eine Reform des Dubliner Abkommens. Da geht es um die Frage, ob wir weiterhin wirklich die ganze Last und Verantwortung auf jene Staaten schieben wollen, die eine Außengrenze in der EU haben, also Spanien, Italien und Griechenland. Das kann auf Dauer kein faires System sein. Es muss Bemühungen um einen fairen Verteilungsschlüssel geben und mehr Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Wir müssen eine faire, nachhaltige Strategie finden, wie wir mit aufgenommenen, geflüchteten Menschen in der EU umgehen. Es kann nicht sein, dass manche Mitgliedsstaaten gar nichts und andere wie Deutschland und Österreich sehr viel leisten.

Es braucht außerdem eine einheitliche Linie bei der Seenotrettung, auch was den Umgang mit privater Seenotrettung betrifft. Es braucht Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsländern, weil ja, es wird den einen oder anderen Asylsuchenden geben, der keinen Asylgrund vorzuweisen hat, dann muss man diese Personen auch in die Herkunftsländer rückführen können. Es braucht ganz generell ein gemeinsames EU-Asylsystem mit raschen Verfahren, mit dem Ziel, dass sich die Asylanerkennungsquoten in den einzelnen europäischen Ländern nicht so stark unterscheiden. Es soll nicht mehr möglich sein, dass beispielsweise afghanische Staatsangehörige in Schweden höhere Chancen auf Asylanerkennung haben als in Österreich. All das muss vereinheitlicht werden, sodass Geflüchtete in der gesamten EU den gleichen Schutz erfahren. Ein gemeinsames, europäisches Asylsystem ist längst überfällig.

Kinder vor Müllbergen im überfüllten Flüchtlingslager Moria

APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Kinder vor Müllbergen im überfüllten Flüchtlingslager Moria

Sie sprechen von „Gemeinsamkeit“ während Europa sich abzuschotten versucht. Zu welchem Preis meinen Sie, versucht das Europa?

Im Grunde um den Preis seiner eigenen Identität. Das, was Europa im Kern zusammenhält, ist keine gemeinsame ethnische oder kulturelle Identität, sondern eine Verständigung auf gemeinsame Werte.

Diese Werte sind in institutionelle Formen gegossen, unter anderem in die europäische Menschenrechtskonvention, die uns von vielen anderen Staaten auf der Welt abhebt. Auf die wir stolz sind und auf die wir, zu Recht, oft und gerne verweisen. Diese europäische Menschenrechtskonvention wird de facto an der griechischen Grenze ausgesetzt, nämlich indem Griechenland keine neuen Asylanträge annimmt, also das Asylrecht aussetzt. Das ist ein wesentliches Grundrecht, auf einer Ebene mit dem Recht auf Meinungsfreiheit. Dass dieses Grundrecht nun einfach ausgesetzt wird und dieser menschenrechtswidrige Vorgang von der EU einfach hingenommen wird, ja Griechenland in seinem Vorgehen sogar unterstützt wird, sehe ich problematisch. Das öffnet die Tür für weitere Entwicklungen in eine Richtung, die wir Europäer*innen nicht unterstützen können und sollten.

Sind also die Menschenrechte bedroht?

Sie sind ausgesetzt. Das Menschenrecht, in einem Staat Schutz zu suchen, ist ausgesetzt. Ich plädiere dafür, gerade in der jetzigen Situation: Recht muss Recht bleiben. Das betrifft vor allem die Grund- und Freiheitsrechte, auf die wir uns als Europäische Wertegemeinschaft verständigt haben.

Sie schreiben in einem ihrer Artikel im Titel „2015 darf sich wiederholen“. Während die europäische Politik genau davor Angst zu haben scheint, wieso sehen Sie das anders?

Wir müssen uns vor Augen führen, was mit dem ständigen Hinweis „2015 darf sich nicht wiederholen“ eigentlich gemacht wird. Damit signalisiert man einerseits den vielen Menschen, die seit 2015 in Europa Zuflucht gefunden haben, dass sie ein notwendiges Übel wären, dass man sich mit ihnen herumschlagen müsste, aber im Grunde hätte man sie lieber nicht hier gehabt. Man möchte kein Ort sein, wo Schutzsuchende Zuflucht finden. Dieses Framing ist problematisch. Auch der Zivilgesellschaft, die 2015 stark geworden und es bis heute geblieben ist, schlägt durch so ein Wording mangelnde Wertschätzung entgegen. Das ist nicht fair gegenüber all denjenigen, die 2015 viel geleistet haben – das waren und sind nicht nur Ehrenamtliche, das sind auch Hilfsorganisationen, Institutionen und Behörden. Diesen Beitrag sollte man würdigen und nicht andauernd das, was 2015 an Hilfsbereitschaft und Humanität von Österreich geleistet wurde, schlecht reden.

Ist die Situation heute anders als vor 5 Jahren?

Vieles hinter dem Stehsatz „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist wirklich nur eine Drohkulisse. Wir haben es derzeit mit wesentlich weniger Menschen zu tun, die potenziell nach Europa kommen könnten. Derzeit befinden an der griechisch-türkischen Grenze ca. 14.000 Personen, wobei viele bereits den Rückzug angetreten sind, weil sie merken, es gibt kein Weiterkommen. Die dringlichste Situation ist jene auf den griechischen Inseln, Samos, Chios, Kos und vor allem Lesbos. Dort sind 42.000 Menschen untergebracht, davon 14.200 Kinder, das sind keine unbewältigbaren Größenordnungen. Einige tausend Menschen könnte Österreich selbst locker aufnehmen, wobei wir momentan ja eher davon sprechen, dass sich manche EU-Mitgliedsstaaten, „die Koalition der Willigen“, darunter Deutschland, Luxemburg und Finnland, dazu verpflichten 500 bis 1000 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Die potenzielle Fluchtbewegung, die auf uns zukommen könnte, ist also wesentlich überschaubarer als 2015. Und die Grenzen, sowohl die Außengrenzen der EU in Griechenland als auch die Grenzen am Westbalkan, sind heute wesentlich stärker militarisiert als es 2015 der Fall war. Zu guter Letzt haben wir in Österreich seit 2015 viele wichtige Strukturen geschaffen, wir sind nun besser vorbereitet, haben Unterkünfte und ein Integrationsgesetz. Wir wissen also, wie es geht, Menschen rasch und geordnet zu helfen.

Das heißt jetzt soll schnell den Menschen die vor Ort kein vor und zurück haben, geholfen werden aber in der Zukunft sollen alle europäischen Mitgliedsstaaten gleichermaßen aufnehmen?

Es braucht einen fairen Verteilungsschlüssel. Die Frage ist nun, wie man den gestaltet und auf europäischer Ebene durchsetzt. Es ist denkbar, ein Modell zu schaffen, bei dem manche Staaten keine geflüchteten Menschen aufnehmen, aber sich dafür finanziell beteiligen, indem sie andere Staaten bei der Unterbringung unterstützen. Die Bevölkerungsgröße könnte einen Indikator dafür bieten. Ein erstes Signal in diese Richtung ist die Initiative von Kommunen und Gemeinden: Es melden sich nun immer mehr Gemeinden, dass sie bereit wären, Menschen aufzunehmen. Das kann ein erster Schritt sein, um etwas Druck aus der desaströsen Situation auf den griechischen Inseln rauszunehmen.

Wieso reagiert die Politik in Österreich entgegen dieser Wünsche der Zivilbevölkerung?

Seit 2015 ist die Stimmung zu Migration und Asyl sicherlich noch deutlich polarisierter als davor. Was wir aber in sozialwissenschaftlichen Erhebungen sehen: Es gibt die vielzitierte „Mitte der Gesellschaft“, die angeblich erodiert, weiterhin. In der medialen Berichterstattung und auf politischer Ebene nehmen wir vorrangig jene (oft sehr lauten) Stimmen wahr, die an den extremen Enden des Meinungsspektrums angesiedelt sind. Interessanterweise ist die Stimmung gegen Geflüchtete innerhalb der EU in jenen Ländern am stärksten ausgeprägt, wo seit 2015 kaum Asylwerbende untergebracht wurden.
In Deutschland dagegen, 2015/16 eines der Länder mit den meisten Asylanträgen, haben sich mehr als hunderte Städte zum Netzwerk „Sichere Häfen“ zusammengeschlossen, in Österreich erklären sich jetzt auch ÖVP-Bürgermeister bereit, Geflüchtete aufzunehmen. Das zeigt schon, dass die Mehrheit der Bevölkerung Menschen nicht im Mittelmeer ertrinken oder in furchtbaren Zuständen, in Schlamm und Kälte, dahinvegetieren lassen will. Die Menschen wünschen sich Sicherheit für sich selbst, in Form einer geordneten Flüchtlingsaufnahme, aber auch Sicherheit für schutzsuchende Kinder, Frauen und Männer. Die Schwierigkeit ist oft, dass extreme Gruppen viel lauter schreien, sichtbarer sind und besser wahrgenommen werden als die breite Mitte, die weiter Hilfsbereitschaft zeigen möchte.

Wie schätzen Sie die Hilfe von Österreich vor Ort ein?

Externalisierung von Grenzschutz ist keine echte Hilfe vor Ort. Ein Teil der Finanzierung, die die Türkei für die humanitäre Unterbringung von syrischen Geflüchteten erhielt, ist auch in die Anschaffung von militärischen Equipment geflossen, wie Studien zeigen. Österreich hat bis zum heutigen Stichtag den absurd niedrigen Betrag von 23.000 USD an UNHCR bezahlt. Im Vergleich dazu hat Deutschland im Jahr 2020 127 Millionen USD bezahlt.

Was würden Sie der EU jetzt raten? Was ist der richtige Weg?

Die temporäre Lösung, die man mit dem EU-Türkei-Deal geschaffen hat, gilt es kritisch zu hinterfragen, es zeigt sich nun, wie volatil der Deal war. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob es auf Dauer eine Lösung sein kann, dass man europäische Migrationspolitik zunehmend externalisiert und militarisiert. Und dass man unter Migrationspolitik im Grunde nur Sicherungspolitik und Finanzierungsspritzen an Drittstaaten versteht. All das hat sich als nicht nachhaltig erwiesen, wie die jetzige Situation zeigt. Natürlich machen die Szenen an der griechisch-türkischen Grenze vielen EU-Bürgerinnen Angst macht, und genau damit spielt die Politik, national wie international. Man könnte die jetzige Krise nutzen, um Migrationspolitik zu institutionalisieren und die Verteilungsfrage zu verhandeln. Auch ein Bottom-Up-Approach ist denkbar, ausgehend von freiwilligen Initiativen auf kommunaler und regionaler Ebene. Auf diesen Ebenen müssten wir ansetzen, um die Debatte in eine andere, konstruktive Richtung zu bringen, wo wir nicht nur Außengrenzschutz meinen, wenn wir über Migrationspolitik sprechen.

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