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Richard Russos „Jenseits der Erwartungen“: Das kleine, große Leben

Richard Russo wird zurecht als brillanter Chronist des amerikanischen Kleinstadtalltags bezeichnet. Gerade ist sein neuer Roman „Jenseits der Erwartungen“ erschienen.

Von Lisa Schneider

2002 gab es bei der Verleihung der Literatur-Pulitzer-Preise eine Überraschung: nicht Jonathan Franzen wurde, wie angenommen, für sein groß angelegtes Familienepos „Die Korrekturen“ ausgezeichnet. Den Prosa-Preis hat Richard Russo für seinen - nicht weniger umfassenden - Gesellschaftsroman „Empire Falls“ entgegengenommen.

Verzögerte Entdeckungen

„Empire Falls“ - die deutsche Version trägt den eher unglücklichen Titel „Diese gottverdammten Träume“ - wurde erst 16 Jahre nach dem Erscheinen des englischen Originals ins Deutsche übersetzt. Richard Russo ist einer der vielen amerikanischen Autoren, denen im europäischen Sprachraum erst spät Beachtung geschenkt worden ist. In seinem Fall liegt das einerseits daran, dass sein Werk auf Deutsch zuerst von den Verlagen Heyne und Lübbe, erst später von Dumont in Vertrieb genommen worden ist. Andererseits ist Richard Russo - neben seinen gut ein dutzend Romanen - vor allem ein Meister der kurzen Form.

Die Kurzgeschichte hat in den USA (von Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald bis Raymond Carver), aber auch in Kanada (etwa von Margaret Atwood oder Alice Munro), schon immer einen höheren Stellenwert genossen, als auf der anderen Seite des Atlantik. Ein weiterer, noch heute nicht vollständig entdeckter, mittlerweile verstorbener Schriftsteller - Richard Yates - könnte davon ein langes Lied singen. Es ist Richard Yates, der stilistisch als großes Vorbild von Richard Russo gelten muss: „In einer Zeit grosser postmoderner Experimente fand ich in ihm diesen altmodischen Geschichtenerzähler, der über Menschen schrieb, die unterhalb des Kulturradars lebten. Das war es, was ich brauchte“, erzählt Richard Russo in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung 2017. Nicht umsonst hat er auch das Vorwort zu Richard Yates’ „Collection of Stories“ geschrieben.

Und es ist genau dieses Vorwort, in dem er Yates’ Werk, aber auch die Ansprüche seines eigenen Schreibens auf den Punkt bringt: „Yates seems to understand (...) that the cruelest promise of democracy is that anybody can be anything. All men may be created equal, but they become unequal in a heartbeat, and in this stories large dreams are often paired with mediocre talents.“

Nicht alle sind gleich

Die Figuren in Richard Russos Romanen sind Außenseiter*innen, die er mit Feingefühl, Empathie aber auch mit notwendiger Distanz beschreibt. Sie sind nämlich nicht alle liebenswert. Russo ist kein Schönredner, er ist Realist, und das passt zur Atmosphäre der grauen, oft trostlosen Kleinstädte Neuenglands, in denen seine Geschichten so oft angesiedelt sind. Die Menschen wurschteln sich durch unglückliche Ehen, finanzielle Rückschläge, durchs Leben.

„North Bath“ oder „Empire Falls“, letzterer der Ort, an dem sein Pulitzer-Roman spielt, sind Städte an der amerikanischen Peripherie. Von Politikern übergangen, von der Industrialisierung eingeholt: Große Konzerne ersetzen kleine Betriebe, sei es eine Textilmanufaktur oder, wie in Russos eigenem Leben, die einst größte Handschuhfabrik Amerikas. Er wurde 1949 geboren und ist in Gloversville, einem ganz ähnlichen Ort, aufgewachsen.

Neu erschienen: „Jenseits der Erwartungen“

Richard Russos neuer Roman, „Jenseits der Erwartungen“, ist soeben auf Deutsch erschienen. Er spielt im Jahr 2015, als Barack Obama sich dem Ende seiner Amtszeit als Präsident der USA nähert und sich das Land zu spalten beginnt. Laut einem der Protagonisten vor allem, weil genannter Präsident „tatsächlich glaubte, die Welt sei ein rationaler Ort und die meisten Menschen vernunftbegabt und guten Willens.“ Richard Russo ist kein Prophet, aber ein guter Beobachter. Die vielen weißen Männer, die wir in seinen Romanen begleiten, sind genau die, die sich von den beiden Großparteien übergangen fühlen. Die, die am Ende Donald Trump gewählt haben.

Buchcover Richard Russo "Jenseits der Erwartungen"

Dumont

„Jenseits der Erwartungen“ von Richard Russo ist in der Übersetzung von Monika Köpfer im Dumont Verlag erschienen.

„Jenseits der Erwartungen“ ist die Geschichte dreier Jugendfreunde, die einander am Minerva-College im Osten der USA kennenlernen. Da wäre einmal der neurotische, kränkliche Teddy Novak, Einzelkind zweier „gestresster Highschool-Lehrer“, der „wusste, seine Eltern liebten ihn, weil sie es, wann immer er sie danach fragte, beteuerten, konnte sich doch bisweilen nicht des Eindrucks erwehren, dass ihr Bedarf an Kindern bereits mehr als gedeckt gewesen war, bevor er ihres Weges kam (...).“ Teddy arbeitet später als befristeter Dozent und Betreiber eines kleinen Buchverlags - das akademische Milieu ist eine Spielstätte vieler Russo-Geschichten (deren Beschreibung in seinem besten Kurzgeschichtenband „Immergleiche Wege“ gipfelt).

Ganz anders Mickey Girardi, Spross einer irisch-italienischen Familie, ihres Zeichens stramme Patrioten. Mickey ist Draufgänger und Rockstar - zumindest möchte er seine Mitmenschen das glauben lassen.

Der dritte der Freunde ist Lincoln Moser, zum aktuellen Zeitpunkt ein etwas spießiger Immobilienmakler in Las Vegas. Er ist in einer Wüstenstadt namens Dunbar aufgewachsen, gehegt von der zurückhaltenden Mutter und gleichzeitig unter der Fuchtel des tyrannischen, erzprotestantischen Vaters, „dessen übergroßes Ego im Gegensatz zu seiner kleinen Statur stand“.

Glück, Zufall, und ein Krimi

Eine der ersten Szenen des Romans beschreibt, wie Teddy, Mickey und Lincoln, damals noch Studenten, vor dem Fernseher zusammensitzen, um der Einberufungslotterie zuzusehen. Die zufällige Reihenfolge legt fest, in welchem Alter die 18-25-jährigen für den Krieg in Vietnam eingezogen werden sollen. Mickey ist mit Nummer neun sehr weit vorne mit dabei, die beiden anderen haben mehr Glück.

Der Krieg, oder vielmehr die mulmige Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen, ihm doch entgangen zu sein, ist wiederkehrendes Thema des Romans. Er ist vorbei, „aber doch nicht ganz. Es war ihr Krieg gewesen, ob sie nun gedient hatten, oder nicht.“

2015 treffen sich die drei Freunde in einem Ferienhaus auf Martha’s Vineyard wieder. 44 Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Besuch auf der Insel sitzen sie zu dritt auf der Veranda und trinken um der guten Zeiten willen eine Bloody Mary nach der anderen. Aber jemand fehlt: Justine „Jacy“ Calloway, der „schöne D’Artagnan“ zu „den drei Musketieren“. Das Mädchen an der Uni, in das sie alle drei verliebt waren. Sie ist am Memorial Day 1971, ebenfalls nach einem gemeinsamen Urlaub auf Martha’s Vineyard, auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

In der zweiten Hälfte des Romans entspinnt sich um Jacys Verschwinden eine Kriminalgeschichte, deren Lösung, wie soll es anders sein, tief in der Freundschaft der drei Protagonisten begraben liegt. Wie gut Richard Russo seine Figuren zu beschreiben und zu begleiten weiß, zeigt allein die Tatsache, dass viel spannender noch als die Detektivarbeit, die Rückblenden auf das Leben der drei Freunde sind.

Es gibt kein kleines Leben

Alle sind sie Träumer, und vor allem wollen sie eins: nicht so werden wie ihre Eltern. Dass man in seiner Kindheit vor allem das, was man ablehnt, nur so aufsaugt, weiß auch Lincoln. Er merkt zunehmends, „dass er mit jedem Mal, verflixt nochmal, ein bisschen mehr wie sein Vater wurde. Nicht dass sie die gleichen Ansichten geteilt hätten, aber das Temperament und die Verhaltensmuster.“ Teddy zitiert ihm dazu schmunzelnd ein Gedicht von Philip Larkin: „Verbockt wirst du von Mom und Pa. Vielleicht nicht absichtlich, doch es passiert.“

Wer Richard Russos Geschichten mag...

dem und der seien diese Bücher empfohlen:

  • Richard Ford „Der Sportreporter“
  • Anne Tyler „Der Sinn des Ganzen“
  • Stewart O’Nan „Henry persönlich“
  • Richard Yates „Ruhestörung“
  • John Cheever „Der Schwimmer“
  • Thomas Wolfe „Die Party bei den Jacks“

Misskommunikation, Unzufriedenheit und falsche Wertvorstellungen schleppen sich in Richard Russos Roman von Generation zu Generation weiter. Sie sind das Erbe, das niemand haben will: „Sie hatten geglaubt, dass wenn sie recht hatten in Bezug auf den Krieg, den ihre Eltern so engstirnig verteidigten, sie irgendwie besonders, vielleicht sogar außergewöhnlich waren. Dass sie die Welt verändern würden.“ In ihren 60ern angekommen, sind Teddy, Mickey und Lincoln zwar nicht weise, aber weiser.

„Chances are“ heißt der neue Roman von Richard Russo im Original, wörtlich wäre das mit „es ist wahrscheinlich, dass“ zu übersetzen. Es ist wahrscheinlich, dass die Jugend voll mit Träumen ist. Es ist wahrscheinlich, dass sie platzen: „Was man auf keinen Fall verlieren will, dessen beraubt einen das Leben.“ Die Geschichten dieser verbratenen Träume, Hoffnungen und Vorsätze sind deshalb so gut, weil sie so nah am Leben sind. Oder, wie Richard Russo sagen würde: „Zu meinen wenigen Überzeugungen als Mann und auch als Schriftsteller gehört es, dass ich der Meinung bin: So etwas wie ein kleines Leben, das gibt es einfach nicht.“

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