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Protestzug in Sofia

APA/AFP/NIKOLAY DOYCHINOV

todor ovtcharov

„Ich will in Bulgarien leben wollen!“

Seit bald einem Monat füllen Zehntausende die Plätze in Bulgariens Hauptstadt und anderen größeren Städten. Sie verlangen den Rücktritt der Regierung und des Generalstaatsanwalts. Die Unzufriedenheit wächst in Bulgarien seit Jahren. Eine Unzufriedenheit über die niedrige Kultur des Premierministers (sowohl politisch, als auch menschlich), über das Gefühl des Einklangs von Staat und Mafia und über die Ausschaltung von freien Medien.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

„Ich will in Bulgarien leben wollen!“, steht auf einem Plakat, dass ein junger Mensch in die Luft hält bei den Protesten gegen die Regierung in Sofia.

Auf der Straße sind meistens junge Leute, die das letzte Mal 1997, als Menschenmassen die Kreuzungen in Sofia aus Protest blockierten, entweder noch nicht geboren oder kleine Kinder waren. Der Funke jetzt wurde ausgelöst, als man sah, wie sich ein ehemaliger Politiker ein Schloss an das Ufer des Schwarzen Meeres gebaut und den Zugang zum Strand abgesperrt hatte. Da die Küste laut Verfassung allen zugänglich sein soll, ist das illegal. Als einige politische Aktivisten versuchten, den Strand vor dem Schloss mit einem Schlauchboot zu erreichen, wurden sie von Securities ins Meer zurückgeschoben. Es stellte sich später heraus, dass diese Bodyguards keine privaten Securities sind, sondern Angestellte des bulgarischen Geheimdienstes. Die Empörung darüber, dass der Staat über diesen ehemaligen Politiker wacht, der bekannt dafür ist, öffentliche Gelder auszusaugen, war riesig. Sie kam wie eine Sintflut.

Die Massen auf den Straßen sind nicht homogen. Ultralinke wie Ultrarechte fordern gemeinsam den Rücktritt der Regierung und des Generalstaatsanwalts, der als ein Protegé des Ex-Politikers mit dem Schloss am Meer gilt. Alle sind sie von der gesamten politischen Klasse angewidert. Ihre Plakate sind kreativ und sarkastisch: Ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter hält ein Plakat in die Höhe: „Jetzt habt ihr Mama böse gemacht!“. Daneben eine junge Frau mit ihrem Plakat: „Ich will, dass Sex so pervers ist wie eure Regierung!“

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Der Premierminister Borissov ist ein erfahrener Politiker, der schon in seiner dritten Amtszeit steht. Er hat einige Minister der Regierung ausgetauscht, über die es Gerüchte gibt, sie stünden dem Schlossbesitzer nahe. Außerdem ist seine Partei offiziell in der Opposition. Das hat noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Die Protestierenden geben sich mit den Bauernopfern nicht zufrieden und wollen den Kopf von Borissov. Die Regierungspropaganda und die zahlreichen Medien, über die der Schlossbesitzer auch verfügt, versuchen die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Protestierenden von einem Glücksspieloligarchen, der in Ungnade gefallen und ins Ausland entflohen ist, bezahlt werden. Daraufhin ist eines der meistverbreiteten Plakate des Protests entstanden: „Ich bin nicht bezahlt, ich hasse euch gratis!“

Mehrere hochrangige EU-Politiker haben auf Twitter ihre Unterstützung für Borissov und den Schlossbesitzer erklärt. Ich würde ihnen raten, sich nicht unvorbereitet zu äußern, denn die nächsten Plakate könnten gegen sie sein.

Es ist nicht leicht, ein Gesicht dieser Proteste zu finden, und es ist noch schwerer vorauszusagen, wohin sie führen werden. Eines ist aber sicher: Eine bürgerliche Gesellschaft in Bulgarien ist aufgewacht und kämpft für ihre Rechte, die ein enger Kreis von Menschen usurpiert hat. Ob die Proteste schlussendlich zu einem Rücktritt der Regierung führen werden, kann man schwer einschätzen. Was danach kommt, weiß man noch weniger. Das Regierungsschiff schaukelt gewaltig im Meer der Unzufriedenheit auf der Straße. Wer wird danach im Rettungsboot sitzen?

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