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Lucia Leidenfrost skizziert in ihrem Debüt hoffnungslose Einsamkeit

Was passiert, wenn Eltern ihre Kinder verlassen und diese nur noch auf sich allein gestellt sind? Im Roman „Die verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost bildet sich bei den kindlichen Protagonist*innen ein brutales System aus Gewalt, Willkür und Macht.

von Michaela Pichler

Ein namenloses Dorf, mitten im Nirgendwo, jede Menge Kinder, ein paar vergreiste Großeltern und nur noch ganz wenige Erwachsene: In „Wir Verlassenen Kinder“ ist die Welt einsam und hoffnungslos. Immer mehr Erwachsene lassen ihre Kinder im Dorf zurück, wo diese ganz auf sich allein gestellt sind. Draußen tobt irgendwo eine Krise, die immer mehr zum Krieg wird.

Täglich fliegen sogenannte Blechvögel über das Dorf, vor denen sich die Kinder verstecken sollen. Das Nachbardorf ist zerbombt, niemand darf es betreten, denn in den Ruinen verstecken sich noch Tretminen. Schulunterricht gibt es schon lange nicht mehr, auch der Lehrer hat sich bereits verabschiedet. Bald formiert sich eine Gruppe unter den Kindern, die für Strafen und Angst im Dorf sorgt. Nur Mila schließt sich der Bande nicht an. Sie tritt im Roman als einziges eigenständig denkendes Kind auf, das sich immer wieder gegen das Kollektiv stellt.

Die Kinderschar ist ihr unheimlich geworden. Wie ein wildes Tier, das in die Enge getrieben wird, bewegen sich die Kinder, wissen nicht, was sie tun sollen, wohin mit sich, und bestrafen sich gegenseitig. Es gibt niemanden, der sie beruhigen kann.

Die Kindergruppe wird im Roman nur das „Wir“ genannt. Um sich von Langeweile und Überlebenskampf abzulenken, stellen sie ihre eigenen Regeln auf, ihre eigene Hierarchie - sie überfallen die Bank und zwingen Kinder, die aus der Reihe tanzen, zum Nacktschnecken-Essen. Mila wird von diesem „Wir“ ganz genau beobachtet: Denn das Mädchen sucht in den verlassenen Häusern nach nützlichen Gegenständen, die einst die Erwachsenen zurück gelassen haben. Mila glaubt nicht mehr an die Rückkehr der Eltern, sie versucht, selbst Herrin der Situation zu werden und möchte sogar die Jüngsten in der stillgelegten Schule unterrichten. Für die Kinderbande ist das Stehlen, wie sie Milas Verhalten bewerten, der größte Regelbruch. Mila wird eingekesselt und sexuell belästigt, von Kindern, die noch viel zu jung sind, um ihre Taten in Worte fassen zu können.

Wenn sie uns einmal finden, wenn wir aus Langeweile verrottet sind, dann werden sie sich wenigstens darüber wundern, dass wir Namen hatten. Die Langeweile ist wie der Hunger. Beide werden von Tag zu Tag größer.

Wir verlassenen Kinder Cover Lucia Leidenfrost

Kremayr & Scheriau

„Wir verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost ist im Verlag Kremayr und Scheriau erschienen.

Irgendwann verlässt auch der letzte Erwachsene das düstere Dorf. Die Lebensmittel werden immer knapper und die Löcher in den Bäuchen der Kinder größer. Als den Kindern eine Pistole in die Hände fällt, bahnt sich eine weitere Katastrophe an. Die Kinder werden zum ersten Mal eine Leiche sehen, es wird aber nicht die letzte sein.

Die Autorin Lucia Leidenfrost ist selbst am Land aufgewachsen, im oberösterreichischen Frankenmarkt. Auch in ihrer ersten Veröffentlichung hat sich Leidenfrost den weniger einfachen Themen gewidmet: In ihrem Kurzgeschichtenband „Mir ist die Zunge so schwer“ (2017) kommen achtzehn Stimmen zu Wort, die vom Krieg, verlorener Hoffnung und Sehnsüchten erzählen. Für ihr Romandebüt „Wir verlassenen Kinder“ ist Lucia Leidenfrost von einem Medienbericht über verlassene Kinder in Moldawien zum Nachdenken angeregt geworden. Die harte Realität packt die Autorin in eine Geschichte, die an den englischen Klassiker „Herr der Fliegen“ von William Golding oder an Ágota Kristófs „Das große Heft“ erinnert.

Bitterer Stoff

Der Roman „Wir Verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost ist ein Schauermärchen über den Zerfall einer Mikro-Gesellschaft. In klarer Sprache und kurzen Sätzen skizziert die Autorin die rohe Brutalität, mit der die Kinder konfrontiert werden und die sie sich schließlich auch selbst aneignen. Anfangs kommt die Gewalt noch von der Außenwelt, über die niemand so recht Bescheid weiß – doch im Laufe der Geschichte werden Misshandlungen und Gewalttaten im brutalen System der Kinderschar immer mehr zum Alltag. Was am Ende übrig bleibt, ist die Einsamkeit und Vernachlässigung, die einen beim Lesen auch nach der letzten Seite nicht mehr loslassen.

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