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Viktor Orban vor ungarischen Flaggen

APA/AFP/Attila KISBENEDEK

„Illiberale Demokratie“: Was ist da in Ungarn los?

Medien mit Maulkorb, ein Parlament, das sich angesichts der Pandemie selbst ausschaltet und eine Regierung, die auf Trans*- und Intersex*-Personen und die Freiheit der Universitäten losgeht. Für die NGO Freedom House ist Ungarn keine Demokratie mehr. Doch es gibt auch Protest gegen autoritäre Tendenzen.

Von Ali Cem Deniz

Es ist fraglich, ob das Urteil der NGO Freedom House Ministerpräsident Viktor Orbán Sorge oder Freude bereitet. Die Organisation misst seit 1972 mit einer eigenen Bewertungsskala die „Freiheit“ der Welt. Ungarn ist das erste EU-Land, das in der Freedom House Liste der „unfreien“ Länder geführt wird. Seit Orbán 2010 zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten seines Landes gewählt wurde, hätte er seine Macht ausgebaut und demokratische Institutionen geschwächt. Im vergangenen Jahr habe er schließlich endgültig große Teile der medialen und kulturellen Landschaft unter seine Kontrolle gebracht, schreibt Freedom House in ihrem Bericht „Nations in Transit“.

Eine unfreie Demokratie

Auf den Bericht reagierte der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs auf Twitter mit einer Erklärung, die man aus Ungarn in den letzten Jahren häufig hören konnte: Freedom House sei längst unter der Kontrolle des Milliardärs George Soros und hätte so ihre Funktion als überparteiliche Menschenrechtsorganisation verloren.

Doch nicht nur Freedom House kommt zum Schluss, dass Ungarns Demokratie nicht mehr eine liberale Demokratie im westlichen Sinne ist. Schon sechs Jahre vor dem Bericht ruft Viktor Orbán bei einer Rede in Rumänien selbst die „illiberale Demokratie“ aus: „And so in this sense the new state that we are constructing in Hungary is an illiberal state, a non-liberal state. It does not reject the fundamental principles of liberalism such as freedom, and I could list a few more, but it does not make this ideology the central element of state organisation, but instead includes a different, special, national approach.“

Am 4. Februar 2020, als das Corona-Virus noch eher als kuriose Meldung durch die Medien geistert, sitzt Orbán bei einer Konferenz in Rom und beklagt, dass die „Linken“, angeführt von Institutionen wie Medien oder Unis, konservative Menschen immer mehr dazu bringen würden, ihre Werte aufzugeben.

Pandemie und Autokratie

Kurz nach diesem Auftritt wurde Italien zum europäischen Zentrum der Corona-Pandemie. Als bald daraufhin auch in Ungarn die Infektionszahlen stiegen, beschloss das ungarische Parlament Ende März mit einer Zweidrittelmehrheit seine eigene Entmachtung. Stattdessen durfte Orbán per Dekret regieren und das auf unbestimmte Zeit. Die Befugnisse gingen so weit, dass Orbán auch Wahlen und Abstimmungen aussetzen durfte. Für die Verbreitung von Falschinformation und Behinderung der Epidemiebekämpfung wurden mit dem Notstandsgesetz mehrjährige Haftstrafen eingeführt.

Während Amnesty International das Notstandsgesetz als „Blankoscheck für Beschränkung der Menschenrechte“ bezeichnete, droht die EU mit einem Verfahren gegen Ungarn. Nach einer Überprüfung durch die EU-Kommission blieb es allerdings nur bei der Androhung. Vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil auch viele andere EU-Länder als Reaktion auf die Pandemie teils drastische Freiheitsbeschränkungen in Kauf genommen haben. Im Juni hob das ungarische Parlament schließlich selbst das Gesetz wieder auf. Auch wenn das Notstandsgesetz kurzfristig war, wurde dennoch ein Präzedenzfall geschaffen und gezeigt, dass die „illiberale Demokratie“ Ungarns auf eine Krise in erster Linie mit der Einschränkung von Freiheiten reagiert.

Eine Schlappe für Orbán

Während die Behinderung der Epidemiebekämpfung unter Strafe gestellt wurde, nahm sich Orbáns Regierung im Mai die Zeit, um ein neues Gesetz zu verabschieden, das die Änderung des biologischen Geschlechts verbietet. Die Diskriminierung von Trans*- und Inter*-Personen wurde damit de facto legalisiert, da sie ihre Ausweisdokumente nicht mehr ändern lassen können.

Im darauffolgenden Monat musste Orbán jedoch eine Niederlage einstecken. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass das umstrittene NGO-Gesetz von 2017 gegen EU-Recht verstoßen habe. Das Gesetz zwingt NGOs bestimmter Größe, die aus dem Ausland finanziert werden, sich bei ungarischen Behörden registrieren zu lassen. Das Gesetz stand vor allem auch deshalb unter Kritik, weil viele darin ein „Anti-Soros-Gesetz“ sahen.

Proteste in Budapest

Seit Orbán zum Ministerpräsidenten Ungarns wurde, hat sich auch die mediale Landschaft des Landes stark verändert. Dieses Jahr tauchte ein angebliches internes Dokument auf, demzufolge staatliche Medien bei der Berichterstattung von gewissen Themen wie Migration oder Klima eine „Genehmigung“ einholen müssten.

Einen Schockeffekt löste die Entlassung des Chefredakteurs des kritischen Online-Portals index.hu aus. Immer mehr Orbán-nahe Unternehmer hatten in den letzten Jahren Anteile am größten Nachrichtenportal des Landes erworben. Die Redaktion musste zunehmend um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Im Juli wurde Chefredakteur Szalbocs Dull gekündigt und aus Protest trat ein großer Teil der Belegschaft zurück. Die Affäre um index.hu löste Proteste aus, bei denen tausende Menschen in Budapest auf die Straße gingen, um für eine freie Presse zu demonstrieren.

Noch bevor die Debatte um die Pressefreiheit in Ungarn zu Ende war, begann eine Diskussion um die Bildungspolitik des Landes. Anfang September entzog die Regierung der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst die Autonomie. Bereits im Mai war die Universität unter die Leitung einer privaten und regierungsnahen Stiftung gestellt worden, um die „Qualität der Lehre zu sichern“. Doch diejenigen, die dort lehren und lernen sehen das anders. Zahlreiche Lehrkräfte haben die Uni verlassen und die Studierenden halten die Universität besetzt – bis heute.

Sitzblockade vor der Universität für Theater und Filmkunst in Budapest am 1. September 2020

APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK

Sitzblockade vor der Universität für Theater und Filmkunst in Budapest am 1.9. 2020

FM4 Auf Laut - Ungarn, quo vadis?

Ungarn wird im Staatenranking der NGO Freedom House heuer erstmals nicht mehr als Demokratie sondern als hybrides Regime eingestuft. Ständig gibt es Schlagzeilen über Ungarn, die den Umbau des Landes dokumentieren: Zurzeit besetzen Studierende die Budapester Universität für Theater- und Filmkunst, um eine Umstrukturierung abzuwehren und die Autonomie der Uni zu verteidigen. Die Behörden gehen massiv gegen regierungskritische Medien vor – das beliebte Online-Portal „Index.hu“ wird unter Druck zu einem staatsnahen Medium umgebaut. Das Land, in dem Gender Studies von den Unis verbannt wurden, verbietet inzwischen Transgender-Personen die amtliche Änderung des biologischen Geschlechts.

Wohin entwickelt sich Ungarn? Welche Chancen hat die ungarische Opposition? Welche Verantwortung hat die Europäische Union? Claus Pirschner diskutiert darüber in FM4 Auf Laut mit Studierenden aus Budapest, Journalist*innen und weiteren Gästen sowie Anrufer*innen.

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