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Eine Frau hält negativ und positv getestete Proben für das Analyse-Gerät im "Cluster-Buster-Bus"

APA/GEORG HOCHMUTH

FM4 Auf Laut: Haben wir die Pandemie im Griff?

Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung könnten mehr Schaden anrichten als das Virus selbst, so die These des Deutschen Netzwerks für Evidenz-basierte Medizin in einer zehnseitigen Stellungnahme. Es fehle die Evidenz für den Nutzen von Masken und Schulschließungen. Der österreichische Epidemiologe Gerald Gartlehner sieht die Corona-Maßnahmen kritisch.

Von Gersin Livia Paya

Die Covid-19-Politik wird von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt. In Deutschland gibt es die Registrierungspflicht in der Gastronomie schon lang, in Schweden besteht keine Maskenpflicht und hierzulande schwankt die Strategie zwischen Panikmache und Verwirrung. Der Weg aus der Krise ist noch nicht gefunden. Eine große Rolle dabei spielt die evidenzbasierte Medizin.

Das Deutsche Evidenz-basierte Medizin Netzwerk stellt die politischen Weichen in einem zehnseitigen Paper infrage, denn laut dessen These sprächen die erhobenen Daten gegen die bisherigen Maßnahmen. Die Tödlichkeit von Covid-19 sei niedriger als vermutet. Schulkinder seien kaum betroffen. Masken seien von unklarem Nutzen. Massentests hätten zweifelhafte Aussagekraft. Absolute Zahlen sollten nicht ohne Referenzgrößen angegeben werden.

Das EbM-Netzwerk verlangt nicht nur die Förderung der Forschung, sondern auch das Nutzen von robusten Daten und das Verändern der Strategie in dem Umgang mit dem neuartigen Coronavirus.

Unter Virolog*innen ist diese Stellungnahme allerdings umstritten. So etwa findet der deutsche Virologe Christian Drosten den Text polemisch und emotional, sicherlich nicht evidenzbasiert. Was aber sagt Gerald Gartlehner, der Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Uni Krems, der auch stellvertretend im Taskforce-Beraterstab des Bundesministeriums ist?

FM4: Was ist eigentlich evidenzbasierte Medizin? Ist Medizin nicht immer evidenzbasiert?

Gerald Gartlehner: Davon würde man ausgehen, dass es in der Medizin immer evidenzbasiert abläuft. Wir wissen aber, dass es sehr häufig nicht der Fall ist. Überlieferungen, Anekdoten spielen in der Medizin eine sehr große Rolle. Evidenzbasiert heißt, dass wissenschaftliche Studien in eine klinische Entscheidung genauso einfließen sollen wie ärztliche Erfahrung und Präferenzen und Werte der Patienten. Eine der drei Säulen der Entscheidung soll auch wissenschaftliches Wissen sein. Das klingt für Patientinnen und Patienten überraschend, weil man davon ausgeht, dass es ohnehin der Fall ist, aber die Realität lehrt uns leider, dass es sehr häufig nicht der Fall ist.

FM4: Das EbM-Netzwerk kritisiert die Krisenkommunikation, vor allem die Bekanntgabe von absoluten Zahlen ohne Bezugsgrößen. Wie schätzen Sie die österreichische Krisenkommunikation im Umgang mit dem neuartigen Coronavirus ein?

Gerald Gartlehner: Da läuft ganz sicher vieles schlecht. Es gibt bestimmte Grundprinzipien der Risikokommunikation in der Medizin. Eines dieser Grundprinzipien ist, dass man nicht mit großen absoluten Zahlen arbeiten soll, sondern das immer in Relation setzen soll mit anderen Erkrankungen. Das wird in Österreich völlig vernachlässigt. Da gibt es noch sehr viel Arbeit auf sehr vielen Ebenen. Da ist die Kritik völlig berechtigt, in diesem Papier.

FM4: Herrscht hier ein Coronavirus-Tunnelblick?

Gerald Gartlehner: Wenn man beispielsweise sagt, es erkranken 5.000 Personen an etwas, dann ist die Zahl 5.000 bei etwas Unbekanntem angsterregend. Wenn man das nicht in Relation mit etwas setzt, das wir kennen, mit dem wir vertraut sind, dann erschreckt uns das als Menschen. Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Zahlen in Relation setzen, etwa mit Herzinfarkten oder anderen Erkrankungen, mit denen wir täglich umgehen, etwa auch Grippeerkrankungen. Diese Relationen sind wichtig.

FM4: Nun leben wir schon über ein halbes Jahr mit diesem Virus. Wieso sind Coronavirus-Studien so kompliziert?

Gerald Gartlehner: Wenn es um die Behandlung von Covid-19-Erkrankten geht, da wurden viele Studien gemacht und sind am Laufen, wie zum Beispiel die Impfstudien. In Europa und ganz sicher in Österreich werden zu wenig Studien zu den Folgen gemacht, also Studien, die Folgen abschätzen, die Folgen des Lockdowns, die Folgen der Schulschließungen. Da bewegen wir uns noch immer in einem wissenschaftsfreien Raum. Das ist ein Versagen der öffentlichen Hand, es werden zu wenig bis gar keine Mittel zur Verfügung gestellt, um die Folgen des Lockdowns und der Maßnahmen wirklich abschätzen zu können. Solange wir Nutzen und Schaden nicht mit guten Daten gegeneinander abwägen können, sind wir auch bei den Maßnahmen ständig im Blindflug.

FM4: Sie haben bestimmt viele Metaanalysen vorliegen. Aus medizinischer und statistischer Sicht: Haben wir die Pandemie im Griff in Österreich?

Gerald Gartlehner: Ich glaube, wir haben die Pandemie derzeit noch relativ gut im Griff. Der Parameter und Indikator, der für mich am Wichtigsten ist und sein sollte, ist die Auslastung der Spitäler. Wir bekommen ein wirkliches Problem, wenn die Spitäler und Intensivstationen überlastet werden, weil dann steigt die Mortalität plötzlich nicht nur bei den Covid-19-Erkrankten. Dann steigt die Mortalität, weil keine Intensivplätze für Verkehrsunfälle, für Herzinfarkte, für andere schwere Erkrankungen verfügbar sind. Das ist in einigen anderen Ländern passiert, zum Beispiel in den USA, in Spanien und Italien. Da müssen wir vorsichtig sein, wir werden Corona nicht ausrotten können. Wir müssen so dosieren, dass wir nicht in diese Situation kommen, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Davon sind wir relativ weit entfernt.

Das Schwierige an dem Ganzen ist, dass alles mit zwei, drei Wochen Verzögerung passiert. Das heißt, die Fehler, die wir jetzt machen, rächen sich in zwei, drei Wochen, und auch das Gute zeigt den Benefit erst in zwei, drei Wochen. Dadurch ist die Steuerung relativ schwierig.

Testabnahme in einer Covid-19 Teststraße für 15 Minuten-Schnelltests vor Beginn einer Lehrveranstaltung der WU-Wien am Mittoch, 16. September 2020

APA/ROLAND SCHLAGER

15-Minuten-Schnelltests vor Beginn einer Lehrveranstaltung der WU-Wien

FM4: Sind wir medizinisch überversorgt in dieser Pandemie?

Gerald Gartlehner: Das kommt darauf an. Es werden einige Dinge gemacht, die ich als absolut sinnfrei beschreiben würde, das ist zum Beispiel die Massentestung im Tourismus. Dafür gibt es ganz sicher keinen medizinischen, epidemiologischen, wissenschaftlichen Grund, warum man das machen soll. Es ist ein Werbegag, um den Tourismus anzukurbeln. Auf der anderen Seite sind es dann doch Ressourcen, die uns anderswo fehlen. Das Wichtigste in einer Pandemie ist das Testen, das Nachverfolgen und das Isolieren der Kranken. Es gibt einige Bereiche in Österreich, wo das derzeit nicht mehr gut funktioniert, und Wien gehört dazu. Es würde sehr viel mehr bringen, die Ressourcen des Tourismus dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden. Nämlich beim Testen und Tracen von Erkrankten und Personen, die mit Erkrankten Kontakt hatten.

Eine Frau bei einem Stand mit Mund-Nasen-Schutzmasken am Flohmarkt des Wiener Naschmarkts

APA/GEORG HOCHMUTH

FM4: Das EbM-Netzwerk erwähnt in dessen Stellungnahme auch den Mund-Nasen-Schutz, zu dessen Nutzen widersprüchliche Daten vorlägen. Das Netzwerk fordert verlässliche Studien dazu, die bislang fehlen. Stimmt das?

Gerald Gartlehner: Ja, da haben sie sicher Recht. Diese Studien fehlen. Dazu muss man allerdings sagen, Masken sind wahrscheinlich eine Public Health Intervention, die relativ wenig Nebenwirkungen hat, die vielleicht lästig ist, unangenehm, aber es treten keine schweren Nebenwirkungen oder Schäden auf. Das heißt, meiner Ansicht nach ist die Entscheidung, Masken zu verwenden, durchaus gerechtfertigt, auch wenn wir noch nicht belastbare Evidenz zur Nutzung von Masken haben.

FM4: Auf welcher Evidenz basieren die politischen Maßnahmen?

Gerald Gartlehner: Das ist eine Frage, die ich mir manchmal selbst stelle. Die Registrierung in den Gasthäusern als Maßnahme gesehen ist eigentlich völlig sinnlos, wenn das Testen und Tracen nicht funktioniert und das funktioniert derzeit in Wien nicht. Das Wichtige muss funktionieren, sonst werden die anderen kleinen Maßnahmen, die die Lebensqualität der Gesellschaft einschränken, auch nicht funktionieren. Der Fokus sollte auf den wesentlichen Maßnahmen sein.

FM4: Der Virologe Christian Drosten sieht die Stellungnahme des EbM-Netzwerks als emotionalen Text ohne jegliche Evidenz. Können sie das nachvollziehen?

Gerald Gartlehner: Nein, kann ich nicht. Es kommen zwei unterschiedliche Kulturen zusammen. Virologen verlieren manchmal ein bisschen Blick für die größere Public Health Sache dahinter, durch ihren virologischen Blick. Es muss um mehr gehen, als die Zahlen und Infektionen runter zu bringen. Diese Maßnahmen haben einen enormen Effekt auf unsere Gesellschaft. Wir wissen, dass Menschen, die arbeitslos sind, ein wesentlich höheres Risiko haben, Suizid zu begehen und zu erkranken, und das alles sollte in Betracht gezogen werden. Und ich glaube, in diese Richtung geht auch der Grundtenor dieser Stellungnahme, dass dieser Tunnelblick auf die Infektionszahlen ganz sicher nicht das Richtige ist, sondern auch die Kollateralschäden betrachtet werden müssen.

FM4: Was läuft noch schief?

Gerald Gartlehner: Ich glaube, die jungen Mitbürgerinnen und Mitbürger werden oft wirklich zu Unrecht geschimpft, dass sie schuld sind am Übertragen durch Partymachen. Aber aus meiner Perspektive zumindest gravierender ist das Nicht-Funktionieren des Systems derzeit in manchen Bereichen von Österreich, also das Testen und Tracen und Isolieren, das ist wesentlich schlimmer und gravierender als jede illegale Party, die irgendwo am Donaukanal stattfindet.

FM4 Auf Laut: Haben wir die Pandemie im Griff?

Dienstag, 29. September 2020, 21-22 Uhr

„Bald wird jeder jemanden kennen...“ Die Aussage von Bundeskanzler Sebastian Kurz hat am 30. März, vier Tage nach dem Infektionshöhepunkt in Österreich zu einer Eskalation der Angst geführt. Ein halbes Jahr später gibt es einerseits viel mehr Wissen über das Virusgeschehen, andererseits nimmt ein großer Teil der Bevölkerung dieses nicht mehr allzu ernst.

In FM4 Auf Laut spricht Lukas Tagwerker mit Expertinnen und Experten über den aktuellen Umgang mit der Pandemie. Schick uns jetzt schon deine Fragen an fm4@orf.at.

Anrufen und mitdiskutieren kannst du ab 21 Uhr unter der Rufnummer 0800 226 996.

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