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G20 Demo Hamburg

CC0/pixabay

Buch

„Sicherheitszone“ von Katrin Seddig: Bei den Hamburger G20-Demos explodieren Generationskonflikte

Die Familie Koschmider steht kurz vor ihrem Zerwürfnis und das ausgerechnet vor dem Ereignis, das jedes einzelne Familienmitglied dazu bewegt, ihren Platz zu hinterfragen. Katrin Seddig hat mit „Sicherheitszone“ einen Roman geschrieben, der transgenerationales Trauma anhand von politischen Geschehnissen sichtbar macht.

Von Alica Ouschan

Vor zwei Wochen hat der G20-Gipfel zum allerersten Mal online stattgefunden und zur Abwechslung mal für überraschend wenig Aufmerksamkeit und Widerstand gesorgt. Anders etwa 2017 beim G20-Treffen in Hamburg, dessen Ereignisse die Hamburger Autorin Katrin Seddig ins Zentrum eines Romans gestellt hat, und diese aus unterschiedlichen Perspektiven der Mitglieder einer stinknormalen Mittelschicht-Familie beschreibt: ein untreuer Ehemann, der jetzt in der Gästewohnung über der Garage wohnt, seine Noch-Ehefrau, die sich fragt was selbstbestimmtes Leben heißt, eine Großmutter, die irgendwo zwischen Flashbacks und Gedächtnislücken dahinvegetiert, ein heimlich schwuler Adoptivsohn, der seinen Platz in der Polizei gefunden hat und eine jugendliche Tochter, die sich immer weiter in Richtung der extremen Linken radikalisiert.

Buchcover

Rowohlt Verlag

Sicherheitszone hat 464 Seiten und ist im Rowohlt Verlag erschienen.

Die Familie Koschmider steht kurz vor ihrem Zerwürfnis, denn sie alle kämpfen mit Identitätsfragen, die sich äußerlich in zwischenmenschlichen Konflikten niederschlagen. Nur darüber gesprochen wird natürlich nicht. Über diese scheinbar durchschnittliche Handlung der allseitsbekannten Schweigekultur und die dadurch entstehenden Spannungsfeldern einer deutschen Familie spannt sich der Hamburger G20-Gipfel 2017 als bevorstehendes Ereignis, das einzelne Familienmitglieder dazu bewegen wird, ihre Lebensweise in ihrem Mikrokosmos und der gesamten Gesellschaft zu hinterfragen.

Transgenerationales Trauma als eigentlicher Mittelpunkt der Handlung

Katrin Seddig holt in ihrem Roman weit aus und lässt sich sehr viel Zeit, einzelne Charaktere und die Beziehungsdynamiken zwischen den Familienmitgliedern zu erklären. Die Erzählperspektive wechselt unbeständig in der Geschichte, die über zwei Drittel des Buches auf ihren vermeintlichen Höhepunkt, den G20-Tag zusteuert. Während dieser langen Vorgeschichte werden immer mehr der verdrängten, inneren Konflikte aufgedröselt: Von der Großmutter, deren Familiengeschichte vielleicht doch nicht so unschuldig ist, wie sie sich es selbst einredet über den Vater, der sich mit seinem eigenen, systemisch indoktrinierten Rassismus konfrontiert sieht, als seine Freundin einen jungen Flüchtling bei sich aufnimmt, bis hin zum Sohn, der seine Homosexualität vor seiner Familie und seinem Arbeitsumfeld versteckt und aus Angst vor Ablehnung mehr und mehr zum Gegenteil seines Selbst wird.

Ein unaufgearbeitetes transgenerationales Trauma, das unwissentlich permanent weitergegeben wird, kommt immer deutlicher an die Oberfläche und wird schließlich unweigerlich zum eigentlichen Mittelpunkt der Geschichte und Wurzel aller Konflikte. Die fehlende Kommunikationsbasis wird hier zum ultimativen Übel, da die Charaktere zwar ständig mit anderen und gedanklich mit sich selbst über ihre Konflikte sprechen, nie aber miteinander - obwohl das vermutlich die einzige Möglichkeit wäre, ihr Verhältnis zu retten.

„Seit Tagen summt die Stadt wie ein Bienenkorb. Es knistert, es summt. Es ist eine Elektrizität in der Luft, die ihn verunsichert, weil er nicht weiß woher sie kommt, wo sich etwas bewegt, was wer plant, er ist mittendrin und weiß doch nichts.“

Beeindruckende Bilder und ein vorhersehbares Ende

Nach der endlos langen Vorgeschichte kommt es schließlich zum heiß ersehnten Höhepunkt und der detailgetreuen Beschreibung der Geschehnisse am 7. und 8. Juli 2017. Autorin Katrin Seddig war damals selbst vor Ort, was bei der authentischen Beschreibung der Beobachtungen vor, während und nach der Demonstration überzeugend zur Geltung kommt. Obwohl vor allem diese Passage des Buchs überaus gelungen, bildgewaltig und spannend ist, kann sie den Gesamteindruck des Buches und die Vorhersehbarkeit der Geschichte nicht überdecken.

„Sicherheitszone“ ist unterm Strich kein Roman über die Ereignisse des G20-Gipfels in Hamburg aus den verschiedenen Perspektiven einer Familie, sondern eher ein Gesellschaftsroman, der versucht, Generationenkonflikte anhand eines einzelnen politischen Ereignisses zu veranschaulichen. Es werden zwar oft die richtigen Fragen gestellt, aber nur selten und wenn dann eher unbefriedigende Antworten geliefert. Für die Länge des Buches ist das Ende der Geschichte außerdem leider auch etwas zu früh vorhersehbar, gleichzeitig ist die Handlung trotz der Thematik weniger politisch als erwartet, weil der Fokus mehr auf den Generationenkonflikten, als den politischen Klüften innerhalb der Familie liegt.

„Er sieht sie die ganze Zeit, wenn sie ihn anschreien, wenn sie ihn anrempeln, wenn sie gegen die Demonstranten vorgehen, gegen den schwarzen Block. Sie sind alle seine Schwester, und sie hassen ihn.“

Sprachlich ist Sicherheitszone angenehm zu lesen, der Erzählstil wechselt zwischen Beschreibungen des Hier und Jetzt und fragmenthaften Erinnerungen und arbeitet dabei viel mit sprachlichen Bildern. Für Fans des aktuellen Trends der literarischen Aufarbeitungen von transgenerationalem Trauma und generationenübergreifenden Konflikten ist Sicherheitszone aber mit Sicherheit ein spannendes und bewegendes Leseerlebnis.

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