FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Lawine

APA/ZEITUNGFOTO.AT

buch

Lawinen erkennen, beurteilen, vermeiden

Die drei Bergführer und Alpin-Ausbildner Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann versuchen in ihrem neuen Buch, die Erkenntnisse aus den letzten 20 Jahren Lawinenforschung an ein möglichst breites Publikum zu bringen.

Von Simon Welebil

Über Lawinen wird viel geschrieben und geredet, wobei die emotionale Komponente in den klassischen oder sozialen Medien abgehandelt wird, die fachliche in speziellen Zeitschriften oder auf schneewissenschaftlichen Konferenzen. Das letzte Buch, das etwas allgemeiner gehalten ist und alle Themen der Lawinenkunde und -prävention behandelt, sei vor über 20 Jahren erschienen, sagt der Bergführer und Psychologe Jan Mersch. Grund genug, die neuen Erkenntnisse für ein breites Publikum neu aufzubereiten.

Gemeinsam mit Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann, allesamt Bergführer und auch in der Ausbildung von Bergführer*innen, Bergretter*innen und Alpintrainer*innen tätig, hat Mersch das Buch „Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden“ geschrieben, das der Verlag als das „das neue Standardwerk für Tourengeher und Freerider“ vermarktet, eine Formulierung, hinter der Mersch auch stehen kann, denn der Anspruch sei wirklich gewesen, einen weiten Bogen über die Lawinenthematik zu spannen, von der Analytik bis hin zu einer sehr detaillierten Beschreibung der Notfallsituation und der Suche nach Verschütteten.

Doppelseiten aus  "Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden" von Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann

Bergwelten Verlag

Beispiel „LVS-Check“. Wichtige Informationen werden im Buch stehts blau unterlegt.

Es braucht Wissen, um Risiken abschätzen zu können

Das Buch beginnt mit einer Klärung der Begriffe „Gefahr“ und „Risiko“, die in der Lawinenkunde unterschiedlich gebraucht werden. Dabei räumen die Autoren allen Wintersportler*innen die Freiheit ein, selbstverantwortlich mit dem eigenen Leben umzugehen und ihr persönliches Restrisiko, das in den Bergen immer vohanden ist, selbst festzulegen. „Dazu ist es aber notwendig, die Gefahr zu erkennen und das damit verbundene Risiko abschätzen zu können.“ Im Umgang mit der hochkomplexen Lawinengefahr ist das nicht immer einfach, wird aber in den folgenden Kapiteln detailliert ausgeführt.

Sein Restrisiko hoch zu wählen ist zwar gefährlich, aber letztendlich eine Frage der individuellen Entscheidung. Inakzeptabel ist es, wenn ein zu hohes Risiko unwissend und ohne Nachdenken gewählt wird, und damit auch noch andere Beteiligte gefährdet werden.

Vom Vokabular zu den Hard Facts

Das Buch erklärt alles Grundlegende über Lawinen und liefert das Vokabular, um überhaupt einen Lawinenlagebericht lesen und verstehen zu können, von Geländesteilheit über Lawinenprobleme bis zu den Gefahrenstufen, jeweils mit Beispielen aus der Praxis.

Im Kapitel „Probabilistik“ geht es anschließend darum, das Lawinenrisiko anhand einer statistischen Unfallverteilung einschätzen zu können, wie sie vom Schweizer „Lawinenpapst“ Werner Munter in den 1990er-Jahren populär gemacht wurde. Mersch und seine Kollegen stellen hier vor allem die „DAV SnowCard“ ins Zentrum, weil sie für sie sehr differenziert und treffsicher anzuwenden ist. Das Problem bei der SnowCard ist, dass sie in Österreich in Kursen nicht wirklich gelehrt wird. Laut Mersch sollte man sich trotzdem damit anfreunden, weil es „das feinste, bestabgestimmte probabilistische Hilfsmittel ist, das in der Anwendung deswegen nicht mehr Aufwand bedeutet als die anderen“. Die Vorbehalte kennt Mersch: „Natürlich ist es für den klassischen österreichischen Markt immer ein bisschen schwierig, die ‚deutsche‘ SnowCard vorzustellen. Aber die Schweizer Elementare Reduktionsmethode macht uns deswegen nicht glücklicher.“

Doppelseiten aus  "Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden" von Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann

Bergwelten Verlag

Triebschnee als eines der häufigsten „Lawinenprobleme“

Fast 100 Seiten stark ist dann das Kapitel „Analytische Gefahrenbeurteilung“, wo es um Schneedecken, Schwachschichten und Lawinenprobleme geht, wie sie entstehen und wie man sie erkennt. Dieses Kapitel geht am meisten in die Tiefe, weshalb hier auch die Schere zwischen Anfänger*innen und Expert*innen am weitesten aufgehen wird. Doch auch hier wird das Wichtigste farbig hervorgehoben und vertiefendes Wissen für Expert*innen eigens gekennzeichnet. Und nicht alle Tourengeher*innen müssen in der Lage sein, ein sogenanntes Schneeprofil in einen Hang zu graben, so Jan Mersch:

„Du kannst ein Schneeprofil graben, um Dinge und Grundlagen zu verstehen und überhaupt ins Thema reinzuschnuppern. Aber um ein Schneeprofil als Entscheidungsgrundlage zu verwenden, da bist du in höheren Weihen unterwegs. Das ist meiner Meinung nach für die Expertenebene derer, die ganz spezielle Situationen haben, wichtig. Oder wenn du sehr steile Sachen fahren willst, weil du der nächste Freeride Star bist, dann ist es vielleicht ein Thema, aber ansonsten ist es, glauben wir, schon auch überhöht.“

Doppelseiten aus  "Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden" von Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann

Bergwelten Verlag

Wirkliches Expertenwissen

Das Lawinenwissen in der Praxis umsetzen

Wie das ganze erworbene Wissen dann schließlich auf einer Tour im freien Gelände angewendet werden kann, dafür stellen die Autoren die Ablaufstrategie „Mantra“ recht ausführlich vor.

Und um alle Themen der Lawinenkunde abzudecken, darf natürlich auch der Notfall nicht fehlen. Jan Mersch ist es dabei auch wichtig gewesen, die Verschüttetensuche auf dem allerneuesten technischen Stand darzustellen, mit modernen Lawinenverschüttetensuchgeräten (LVS) und mit elektronischen Sonden.

Buchcover von  "Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden" von Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann

Bergwelten Verlag

„Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden“ von Jan Mersch, Helmut Mittermar und Markus Fleischmann ist im Bergwelten Verlag erschienen. Illustriert hat es der für seine Alpin-Cartoons bekannte Georg Sojer.

„Lawinen. Erkennen - Beurteilen - Vermeiden“ ist kein Buch, das revolutionäre Erkenntnisse liefert, die die Lawinenkunde umkrempeln, wie etwa Werner Munters „3x3 Lawinen“ das Risikomanagement vollkommen anders definiert hat oder „lawine. Das Praxis-Handbuch“ von Rudi Mair und Patrick Nairz, das die Lawinenprobleme und Gefahrenmuster erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht hat. Jan Mersch, Helmut Mittermayr und Markus Fleischmann setzen aber im Vergleich zu den oben genannten viel breiter an und fassen in ihrem Buch den aktuellen Stand der Forschung und Ausbildung hervorragend zusammen. Sie haben ein Nachschlagewerk geschrieben, das sich einen Platz im Bücherregal aller Wintersportler*innen verdient hat.

Dass so ein Nachschlagewerk allerdings nur eine Unterstützung in dem langen Prozess sein kann, sich Lawinenwissen anzueignen, ist Jan Mersch klar:

„Du kannst dir aus dem Buch sehr, sehr viele Grundlagen, sehr, sehr viele Vertiefungen rausziehen, aber letztendlich wirst du immer nur in der Praxis lernen. Du wirst versuchen müssen, die Dinge, die du da liest, draußen in der Natur wiederzufinden, im Gebirge. Und du wirst dann Irritationen erleben. Und dann gehst du wieder heim und liest wieder im Buch weiter und vielleicht löst sich der eine oder andere Knoten, der sich draußen ergeben hat. Aber ohne das Anwenden wird es nicht gehen. Und das kann dir das Buch nicht abnehmen. Diese Erfahrungen zu machen, rauszugehen und wieder zu reflektieren.“

Mit diesem Buch als Anleitung können diese Erfahrungen hoffentlich auch ohne gröbere Konsequenzen gemacht werden.

mehr Sport:

Aktuell: