FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Eine Menge Frauen halten grüne, dreieckige Tücher hoch

APA/AFP/RONALDO SCHEMIDT

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung in Argentinien dauert an

Am 30. Dezember 2020 ist in Argentinien der Schwangerschaftsabbruch nicht nur legalisiert worden, er wird seither auch kostenlos durchgeführt. Was für viele der grandiose Sieg in einem Jahrzehnte dauerenden Kampf war, ist vielen Gruppierungen im Land ein Dorn im Auge.

Von Melissa Erhardt

„Wir haben bis in der Früh auf die Abstimmung gewartet. Als dann das Ergebnis verkündet wurde, war das wirklich sehr bewegend. Ich wusste, das ist ein historischer Moment.“ Die Freude bei Fernanda war groß, als das Recht auf Abtreibung am 30. Dezember vergangenen Jahres nach einer 12-stündigen Debatte im argentinischen Parlament legalisiert wurde. Fernanda lebt mit ihrem Freund und ihrem gemeinsamen Kind in Villa María, einer kleinen Stadt in Zentralargentinien. „Ich habe mich bewusst für meinen Sohn entschieden und liebe ihn vom ganzen Herzen, aber das heißt nicht, dass ich andere Frauen dazu zwingen kann, Kinder zu bekommen. So wie ich mich dafür entscheiden hab, entscheiden sich andere dagegen.“

Seit dem 24. Jänner ist eine Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche legal, der Eingriff ist kostenlos. Neben Kuba, Uruguay, Guayana und einigen Bundesstaaten in Mexiko hat Argentinien somit eines der liberalsten Abtreibungsgesetze in Lateinamerika. Zuvor war ein Abbruch legal nur unter zwei Umständen möglich: Wenn die Schwangerschaft aus einer - bewiesenen - Vergewaltigung hervorging oder wenn die Geburt des Kindes die Mutter in Lebensgefahr bringen würde.

Viele Frauen entschlossen sich bisher zu sogenannten abortos clandestinos, also heimlichen, medikamentösen Abtreibungen. Ging etwas schief, waren die Folgen nicht nur physische und strafrechtliche, wie Fernanda erzählt: „Eine Freundin von mir hat im Geheimen abgetrieben, aber Reste des Fötus sind im Körper zurückgeblieben. Das Ganze hat sich infiziert und sie musste ins öffentliche Krankenhaus. Dort haben sie sie behandelt, als wäre sie eine Mörderin. Sie haben ihr viel psychischen Schaden zugefügt, und es hat sie einiges an Kraft gekostet, darüber hinwegzukommen.“

Angst vor schlechter Behandlung

Obwohl sich laut Medienberichten die Anfragen im Gesundheitssystem nach einer Abtreibung seit der Legalisierung verdoppelt haben, ist die Zahl der zu Hause durchgeführten Abtreibungen nicht zurückgegangen. Das weiß Agustina aus eigener Erfahrung. Sie ist seit Jahren in der feministischen Gruppierung Socorristas en Red aktiv, die Frauen nicht nur über die Möglichkeit medikamentöser Abtreibung informiert, sondern auch beim Prozess selbst unterstützt: „Die Leute rufen bei uns an, wir treffen uns mit ihnen und erklären Schritt für Schritt, wie so ein Abbruch ausschaut, geben ihnen Tipps, wie sie mit den Schmerzen umgehen sollen und so weiter. Nach diesem Workshop bleiben wir in telefonischem Kontakt, auch während der Abtreibung.“

Ein Umdenken in der Gesellschaft? Darauf würde ich nicht wetten.

Agustina hat bereits über 150 Schwangerschaftsabbrüche begleitet, eine veränderte Nachfrage sieht sie auch nach der Legalisierung nicht. „Es gibt einen enormen Machtmissbrauch vonseiten der Gesundheitseinrichtungen. Viele wollen deswegen für eine Abtreibung nicht ins Krankenhaus. Sie haben Angst davor, öffentlich verurteilt oder schlecht behandelt zu werden, weil sie sich zu dem Schritt entschieden haben. Deswegen kontaktieren sie lieber uns.“

Das Gesetz sieht Agustina als Ergebnis eines jahrzehntelangen feministischen Kampfes, doch einen öffentlichen Wandel der Denkweise sieht sie nicht: „Argentinien befindet sich seit einigen Jahren in einer wirtschaftlich sehr prekären Situation. Viele Menschen haben keine formelle Arbeit, viele leben in Armut oder arbeiten schwarz. Diese Umstände kann man intersektional denken, um zu schauen, wie sich die Situation der Frau in Argentinien von Kontext zu Kontext unterscheidet. Das passiert im universitären Kontext auch immer mehr. Aber ein Umdenken in der Gesellschaft? Darauf würde ich nicht wetten.“

Abtreibungsgegner*innen mobilisieren sich

Dieser Umstand zeigt sich auch deutlich in der Debatte um Abtreibung. Während viele Menschen Argentinien als Vorbild für die Gesetzgebung anderer lateinamerikanischer Länder sehen wollen, ist die argentinische Gesellschaft selbst stark gespalten. Die Entscheidung am 30. Dezember war sehr knapp: Neben der Marea Verde, der „Grünen Flut“, die sich für die reproduktiven Rechte der Frauen einsetzt, gibt es im Land auch noch die Ola Celeste, die „Blaue Welle“. Und die ist nach wie vor aktiv, wie Fernanda erzählt: „Viele Anti-Abtreibungs-Gruppierungen, vor allem katholische und evangelische, wollen jetzt gegen die staatliche Verletzung von Grundrechten klagen, damit sich das Gesetz nicht durchsetzt. Es gibt schon Provinzen, die das Gesetz auf Eis gelegt haben, weil viele Gruppierungen nicht damit einverstanden sind“.

Sie spielt damit auf den Chaco an, eine Provinz im Norden Argentiniens, wo das Gesetz von einer Richterin ausgehebelt wurde, nachdem eine Gruppe von Personen eine Klage einbracht hatte, dass das Gesetz gegen das Recht auf das eigene Leben verstoße und somit verfassungswidrig sei. In neun anderen Provinzen wurden ähnliche Klagen eingebracht. Viele Ärzt*innen verwehren ihren Klient*innen das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch wie etwa in der Provinz Jujuy, wo bis auf einen Gynäkologen alle anderen einfach nein sagen.

Vor allem im Norden des Landes sind diese Gruppierungen sehr einflussreich, da hier die katholischen und evangelischen Kirchen einen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben. Die Rivalität zwischen der Grünen Flut und der Blauen Welle sieht Fernanda als das größte gesellschaftliche Problem in Argentinien. „Es passieren einfach sehr widersprüchliche Dinge. Es gibt große Siege wie die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe (Anm.: Argentinien war das erste Land Lateinamerikas, das 2010 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat) oder die Legalisierung der Abtreibung, aber dahinter gibt es eine riesige Welle an Menschen, die dagegen sind. Sie beharren darauf, dass es so sein soll wie früher, auch wenn die Welt nicht mehr so ist wie früher.“

mehr Politik:

Aktuell: