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Titelseite des Guardian: "Tens of thousands of people died who didn't need to die"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Seuche des Nationalismus

Über die Gefahren der nationalen Gruppendenke - am Bespiel der Geständnisse von Boris Johnsons Ex-Intimus Dominic Cummings, aber auch des österreichischen Landeverbots, das mich von euch fernhalten soll.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Es ist bei aller Eitelkeit normalerweise ja nicht meine liebste Angewohnheit, aber anlässlich der Dinge, die in Großbritannien gerade los sind, musste ich glatt meine eigene Schreiberei von vor einem Jahr nachlesen. Nur um nachzuschauen, was ich euch damals schon über diese Figur namens Dominic Cummings erzählt hab.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Und siehe da, diese Kolumne hab ich gefunden und fand sie rückblickend auch gar nicht so übel, nur leider viel zu lang. Das soll hier heute nicht noch einmal passieren (schaut doch einmal wie beruhigend breit der Scroll-Balken auf der rechten Seite hier ist, und ihr seht, ich spreche die Wahrheit).

Ich bezeichnete Cummings damals als „rechten Regierungs-Moby“ (witziger Lookism, war 2020 noch erlaubt), und diesen Job hat er bekanntlich verloren, seit Boris Johnson ihn im November hochkant aus der Downing Street warf. Seither haben wir darauf gewartet, dass Cummings sich rächt und auspackt, und gestern tat er ebendies in einer Befragung durch ein parlamentarisches Komitee.

Former number 10 special advisor Dominic Cummings waits for a taxi as he leaves Parliament after giving evidence to a Parliamentary committee hearing in London on May 26, 2021

JUSTIN TALLIS / AFP

Cummings gestern, nach seiner Aussage vor dem Parlamentsausschuss

Er beschuldigte dort den Premierminister und erstaunlicherweise auch sich selbst der verheerenden, zehntausende Menschenleben kostenden Inkompetenz im Angesicht der Covid-Pandemie. Er verglich Johnsons erratische Richtungslosigkeit bildhaft mit dem Rollverhalten eines Einkaufswagens im Supermarkt, ja behauptete sogar, dass die Expert*innen ihre Beratungen teils vom Premier fernhalten mussten, um dessen irrationalen Einmischungen zu entgehen.

Johnson habe die Pandemie für Angstmache gehalten, dann gemeint, es würden sowieso „nur“ Über-80-jährige dran sterben, und den Bürgermeister im Weißen Hai als Vorbild zitiert („Der Strand bleibt offen!“).

Weiters bezichtigte Cummings den Gesundheitsminister offen der wiederholten Lüge und Schönfärberei, nicht zuletzt, als jener wissentlich ungetestete Spitalspatient*innen zurück in ihre Altersheime schicken ließ. Und er legte offen, dass die BBC-Politikredakteurin Laura Kuennsberg während seiner Zeit in der Downing Street alle seiner anonymen Briefings ungefiltert an die Öffentlichkeit weitergab (auch das stand übrigens schon vor einem Jahr in meiner Kolumne because it was that obvious!).

Cummings’ Aussage, dass die ganze britische Elite inklusive seiner selbst und eines großen Teils des wissenschaftlichen Establishments an einem schweren Fall von „group think“ litt und die gesamte Seuche in ihrem exzeptionalistischen Selbstbetrug schwer unterschätzte, kann man wiederum als späte Selbsterkenntnis akzeptieren.

Tatsächlich war aber auch das damals schon sowas von offensichtlich, nicht nur für mich, sondern auch für euch aus der Entfernung.

Vorgestern beim Desktop-Aufräumen kam mir als Beleg dieser Screenshot eines meiner Tweets vom 13. März 2020 unter, den ich mir damals für Tage wie diesen aufgehoben haben muss.

"I think I have to tell UK friends that on the continental half of my timeline people think what happens in Britain is criminal negligence and downright insane. I fear they have a point."

Robert Rotifer

Interessantes Detail übrigens auch aus Cummings’ öffentlicher Anklage/Schuldbekenntnis, dass Johnsons Cabinet Secretary intern die später geleugnete Herdenimmunitätsstrategie der Regierung mit einer „Windpocken-Party“ (zu österreichisch „Feuchtblattern“) gleichsetzte, bei der Eltern ihre Kinder mutwillig einer Infektion aussetzen, damit ihr ganzer Freundeskreis die Krankheit auf einmal hinter sich bringt.

Das erinnerte mich an eine neulich wiederholte BBC-Doku, in der der Moderator die weltweite Impf-Kampagne der WHO gegen die Pocken von 1967 bis ’77 als „Triumph der Medizin und der internationalen Zusammenarbeit“ erklärte. Die Doku war schon ein wenig älter, der Moderator sagte das daher in jenem selbstverständlichen Ton, mit dem man vor dem derzeitigen Zeitalter des hirnverbrannten Neo-Nationalismus solche Wortgruppen herunterzuschnurren pflegte.

Der Vergleich mit der Corona-Bekämpfung von heute ist tatsächlich kein angenehmer, damals wurde nicht nur in Afrika auf Kosten reicherer Länder geimpft, sondern sogar Geld für das Melden von Pocken-Fällen geboten. Nicht aus Großmut, sondern weil die Menschheit offenbar kapiert hatte, dass sich eine weltweite Seuche nicht auf nationaler Ebene, und schon gar nicht in nationaler Konkurrenz bekämpfen lässt.

Und damit komme ich zum offen deklarierten Eigeninteresse hier. Vor zwei Tagen nämlich kam die Meldung rein, dass Österreich wegen des hiesigen Grassierens der „indischen“ Mutante ein Landeverbot für Flüge aus dem Vereinigten Königreich verhängt hat.

Als jemand, der selbst genau so einen Flug gebucht hat, um nach anderthalb Jahren Abwesenheit in Wien Verwandte und Freund*innen zu sehen, bzw. ein paar Gigs zu spielen und andere zu besuchen (hallo Popfest in der Arena!), macht mich sowas nicht gerade glücklich. Muss dazu sagen, dass ich mich bisher immer brav an die Anweisungen gehalten habe, auch, als es möglich war, mit Umweg über Deutschland (oder, wie mir damals von der Fluglinie vorgeschlagen, Finnland) anzureisen. Ich akzeptierte, dass solche Tricks dem Sinn der Maßnahme widersprachen.

Jetzt dagegen, wo ich geimpft bin und so wie ihr laufend getestet werde, kann ich nicht umhin, in dieser pauschalen Vorgangsweise ein gewisses populistisches Posing zu orten, und das kotzt mich ehrlich gesagt dann doch ein wenig an.

Ich habe aus der Entfernung weder Lust noch Neigung noch genug Wissen, um mich zu regierungsinternen Konflikten bei euch zu äußern, aber ihr braucht sie mir auch gar nicht erst zu erklären, denn sie sollten bei solchen Entscheidungen schließlich keine Rolle spielen. Irgendwann sollte sich jedenfalls herumgesprochen haben, dass das selektive, von Tourismus- und politischen Interessen verzerrte Aussperren bestimmter Teile des Rests der Welt auf Dauer keine Lösung bietet. Und dass hinter den Ausgesperrten auch viele Menschen mit sehr guten Gründen zur Grenzüberschreitung stecken, deren Rechte bedenkenlos der Illusion vom Bewahren der Volksgesundheit geopfert werden.

Ich verwende dieses historisch verbrecherisch belastete Wort durchaus bewusst, weil auch ziemlich unleugbar der Keim seines Geists wieder zum Vorschein kommt – unter dem Deckmantel der wissenschaftlich begründeten Vernunft. Natürlich auch und schon überhaupt in meiner beharrlich group-thinking Wahlheimat hier.

Die könnt ihr, im unwahrscheinlichen Fall, dass ihr das geplant hättet, derzeit also ohnehin nicht besuchen, und selbst dann könnte ich das euch derzeit auch nicht mit gutem Gewissen anraten. Denn es scheint, als lebten die Beamt*innen der britischen Border Force dieser Tage eine Art jingoistischen Rausch aus. So sehr häufen sich die Berichte über EU-Bürger*innen, die an der britischen Grenze verdächtigt werden, sich in Großbritannien niederlassen zu wollen, und teils stunden-, ja sogar Tage lang ohne Telefon festgehalten oder in Abschiebezentren gesteckt worden sind.

Das einzige Medium, in dem darüber berichtet wird, scheint wieder einmal der Guardian zu sein, in der heutigen Story kommen ein italienischer Hotelmanager und eine dänische Zuckerbäckerin zu Wort, und sobald ich das erwähne, muss ich natürlich auch darauf hinweisen, dass Einreisende aus Nicht-EU-Ländern hier (aber nicht nur hier) schon die längste Zeit solche Demütigungen über sich ergehen lassen haben müssen.

Aber angesichts der Häufung dieser Fälle, wird man den Eindruck nicht los, dass da noch eine ganz spezielle, feindselige Post-Brexit-Energie mit hinein spielt.

Gar nicht sympathisch. Nil points. Wird aber auch nicht besser, wenn man diese Attitüde mit Gegenseitigkeit belohnt.

Eine bittere Ironie am Rande, die May Bulman, die für Einreise- und Asyl-Fragen zuständige Korrespondentin des Independent in folgendem Thread erklärt, ist, dass Großbritannien mit seinem EU-Austritt auch das Recht verloren hat, Asylsuchende in auf ihrem Weg hierher durchquerte EU-Länder zurückzuschicken. Und trotzdem tut das britische Home Office weiter so, als wären solche Abschiebungen möglich.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass ich schon einmal mehr an die Menschheit geglaubt habe.

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