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Zelte im Flüchtlingslager

David Riegler / FM4

Teufelskreis Balkanroute: Zwischen Pushbacks und Perspektivlosigkeit

Kälte, Grenzgewalt und Hoffnungslosigkeit: Im Norden von Bosnien und Herzegowina versuchen hunderte Geflüchtete, noch vor dem Winter in die Europäische Union zu kommen. Doch an der Grenze eskaliert die Gewalt.

Von David Riegler

Überall brennen kleine Lagerfeuer, die Menschen sind in Decken gewickelt und die Kinder tragen mehrere Schichten Kleidung. Der Winter kündigt sich an, hier nahe der bosnischen Kleinstadt Velika Kladuša, wo rund 400 Menschen ihre Zelte auf einem Feld aufgeschlagen haben. Der Boden ist schlammig, die Zelte sind oft nur provisorische Plastikplanen auf Stöcken, und Sanitäranlagen fehlen komplett. Es sind auch einige Kinder hier, die zwischen Abfall und streunenden Hunden miteinander spielen.

Das Einzige, was die Menschen an diesem rauen Ort hält, ist die Hoffnung, es bald über die zwei Kilometer entfernte Grenze nach Kroatien und damit in die Europäische Union zu schaffen. Sobald der Schnee über die Region hereinbricht, ist es zu kalt für den tagelangen Marsch durch die Wälder, darum versuchen die Geflüchteten noch die letzten schneefreien Tage für den schweren und gefährlichen Grenzübertritt zu nutzen.

Kinder spielen

David Riegler / FM4

Kein Weg zurück

Die meisten Menschen in diesem Zeltlager kommen aus Afghanistan und haben ihre Heimat verlassen, weil sie in dem politisch instabilen Land, das jetzt von den radikalen Taliban kontrolliert wird, keine Zukunft sehen. Viele gehören zur ethnischen Minderheit der Hazara, die von den Taliban systematisch verfolgt wird. Aber auch Menschen, die mit westlichen Organisationen zusammengearbeitet oder sich politisch geäußert haben, sind in Gefahr. Dazu gehört Mohamed, der mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Baby hier in einem Zelt lebt.

Als Zeichner hat er mehrere Karikaturen in Zeitungen veröffentlicht. Auf einem Block zeichnet er uns eine Karikatur der Taliban, mit Vampirzähnen, Echsenaugen und einem Bombengürtel umgeschnallt. Allein diese Zeichnung würde ihn in seiner Heimat in Lebensgefahr bringen. Er hat versucht, in Griechenland Asyl zu bekommen, doch der Antrag wurde abgelehnt. Eine Rückkehr nach Afghanistan ist jedoch ausgeschlossen, darum ist er über die Balkanroute bis nach Bosnien gekommen, wo er seit drei Monaten mit seiner Familie ausharrt. So wie viele hier hat auch er mehrfach versucht, über die Grenze zu kommen und ist bisher immer daran gescheitert.

Karikaturist aus Bosnien zeigt seine Taliban-Karikatur

David Riegler / FM4

Mohamed macht sich keine Illusionen darüber, wie schwer es ist, über die Grenze zu kommen. Ein Freund von ihm habe es schon 30-mal versucht, doch ohne Erfolg. Er sorgt sich vor allem um seine Frau und sein Kind, denn vor kurzem habe er erlebt, wie die Grenzpolizei eine schwangere Frau geschlagen habe, erzählt er. Trotzdem sieht er keine andere Möglichkeit, als es immer wieder zu versuchen.

Ein grausames Spiel

Im kalten Fluss, der hinter dem Zeltlager vorbeifließt, waschen sich einige junge Männer, die gerade von der kroatischen Grenze zurückkommen. Sie nennen den Grenzübertritt „The Game“, doch hinter dem harmlosen Begriff steckt viel Gewalt und Demütigung durch die Grenzpolizei. Seit die Balkanroute 2016 von der Politik für geschlossen erklärt wurde, gibt es regelmäßig Berichte vom brutalen Vorgehen der kroatischen Polizei gegen Geflüchtete.

Die kroatischen Behörden haben dies immer dementiert, doch erst vor kurzem ist es einem Team von Journalist*innen gelungen, auf Video festzuhalten, wie maskierte Polizisten die Menschen mit Schlagstöcken nach Bosnien und Herzegowina zurückprügeln. Die Polizei spricht von Einzelfällen, doch die zahlreichen Augenzeugenberichte weisen auf systematische Gewalt hin.

„We are humans, not animals“, sagt Ibrahim, der erst am Vortag selbst einen sogenannten Pushback erlebt hat. Der FIFA-Schiedsrichter aus Afghanistan berichtet, dass die Polizei ihm vor seinen Kindern eine Waffe an den Kopf gehalten habe. Seine Kinder haben bis heute Angst und beginnen zu weinen, wenn sie einen Polizisten sehen, sagt Ibrahim. Außerdem seien ihm sein Handy und all seine Wertsachen abgenommen worden, was laut den Geflüchteten hier im Zeltlager zur Standard-Vorgehensweise der kroatischen Polizei gehört.

Verlassene Ruine mit Zeichnungen an der Wand

David Riegler / FM4

Die Gewalt an der Grenze kann viele Formen annehmen, so wurde schon von sexuellen Übergriffen berichtet, aber auch von verschiedensten Demütigungen und Entwürdigungen durch grausame Grenzpolizisten. Auch Sharif, ein junger Mann aus Afghanistan, der ebenfalls zu der Gruppe der Hazara gehört, kann davon berichten. Einmal habe er es fast bis nach Slowenien geschafft, doch er und einige andere Männer wurden erwischt und von der Polizei in einem Van nach Bosnien und Herzegowina gebracht. Der fahrende Polizist habe dabei immer wieder die Geschwindigkeit erhöht und dann eine Vollbremsung durchgeführt, was bei einem jungen Flüchtling zu einem Bruch der Schulter geführt habe. „We have been past many countries and we have never seen something like the police in Croatia”, sagt Sharif.

Die Balkanroute ist gefährlich, aber nicht geschlossen

Die Schließung der Balkanroute, die sich gleich mehrere Politiker*innen in der EU auf die Fahnen geschrieben haben, hat nicht funktioniert. Rund 10.000 Geflüchtete sind derzeit in Bosnien und Herzegowina und nach Schätzungen der NGOs befinden sich circa 30.000 Flüchtlinge auf dem gesamten Balkan, unter anderem wegen der instabilen Lage in Afghanistan.

„Trotz der kroatischen Prügelarmee können sie die Menschen nicht aufhalten“, sagt der Rapper und Aktivist Kid Pex, der seit Jahren mit seiner NGO SOS Balkanroute vor Ort hilft. „Es gibt natürlich besondere Pechvögel, die tatsächlich seit drei Jahren hier festhängen, aber es gibt auch Menschen, denen es nach ein oder zwei Monaten gelingt und anderen nach einem halben Jahr.“ Irgendwann würden es die meisten schaffen - und sie haben auch keine andere Wahl, denn der Staat Bosnien und Herzegowina gewährt nur in Ausnahmefällen Asyl. Der Staat ist derzeit von einem innenpolitischen Konflikt und hoher Arbeitslosigkeit geprägt.

Bagger räumt Flüchtlingslager

Valentin Iser

Es gibt zwar einige offizielle Flüchtlingsunterkünfte in Bosnien und Herzegowina, doch in welchem Zustand diese sind, ist schwer einzuschätzen. Journalist*innen dürfen zum Beispiel im umstrittenen Flüchtlingslager Lipa keine Aufnahmen machen, und in dem Zeitraum, in dem FM4 vor Ort recherchiert, wird uns generell der Zutritt verweigert. In den letzten Jahren haben Berichte - zum Beispiel über das Flüchtlingslager Vučjak - für internationale Kritik an den bosnischen Behörden gesorgt.

Ruinen, verlassene Gebäude und Zeltstädte

Die EU setzt seit Jahren auf Hilfe vor Ort und hat bisher über 90 Millionen Euro an Hilfsgeldern gezahlt, doch laut NGOs kommt das Geld oft nicht dort an, wo es gebraucht wird. Die vielen Menschen außerhalb der offiziellen Flüchtlingsunterkünfte sind auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen. Unter anderem durch Spenden aus Österreich konnte eine Küche in Bihać aufgebaut werden, in der die Mitarbeiter*innen des Roten Kreuzes rund 1600 warme Mahlzeiten pro Tag kochen. Freiwillige Helfer*innen von SOS Balkanroute fahren mit Kleidung und Lebensmitteln auch in die entlegensten Bergregionen, denn die Behörden führen regelmäßig Razzien durch und vertreiben die Flüchtlinge aus den Städten. Daher schlagen diese abseits jeglicher Infrastruktur Zelte auf oder schlafen in Ruinen und verlassenen Gebäuden.

Zelt in Ruine

David Riegler / FM4

Kid Pex und sein Team haben ein breites Netz an lokalen und österreichischen Freiwilligen aufgebaut und organisieren immer wieder auch Charity-Events und Sammelaktionen in Österreich. Diesmal sind Vertreter des österreichischen Hip-Hop Labels Honigdachs, darunter der Rapper Kreiml, in Bosnien und Herzegowina. Sie haben 10.000 Euro gesammelt und auch Sachspenden mitgebracht, die hier verteilt werden. Auch Vertreter*innen der Politik kommen immer wieder und machen sich ein Bild von der Situation, doch bisher gab es kaum Veränderungen im Norden Bosniens. Jedes Jahr droht also hier wieder eine humanitäre Katastrophe, sobald der Winter über die Region hereinbricht. „Durch diese Untätigkeit und die Pushbacks ist diese Balkanroute ein Teufelskreis der Frustration“, lautet das Resümee von Kid Pex.

Kid Pex, Kreiml und Roli vom Label Honigdachs sitzen unter einem Zelt

David Riegler / FM4

Die letzte Chance vor dem Winter

Im Zeltlager in Velika Kladuša spricht sich herum, dass die Behörden den Platz in den nächsten Tagen räumen werden. Einige haben angekündigt, dass sie sich wieder auf den Weg machen, um „The Game“ endlich zu gewinnen, andere sind gezwungen, wegen der Kälte aufzugeben. Die 28-jährige Sohra hat dreimal versucht, mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern über die Grenze zu kommen, doch sie sind immer gescheitert.

Viele hier sind krank und fragen nach Medikamenten gegen Halsschmerzen und Fieber, denn eine Erkältung geht um. Auch die beiden Kinder von Sohra hat es erwischt und nach der letzten kalten Nacht ist auch ihr Mann krank, erzählt sie. In diesem Zustand haben sie keine Möglichkeit, es über die Grenze zu schaffen. Sie versuchen jetzt einen Platz in einer offiziellen Flüchtlingsunterkunft zu bekommen und hoffen auf einen beheizten Schlafplatz, wo sie den Winter über bleiben können. Im Frühling, wenn der Schnee wieder geschmolzen ist, geht alles wieder von vorne los, und Sohra wird wieder versuchen, mit ihrer Familie eine neue Heimat zu finden.

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