FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Autorin & Regisseurin Iryna Tsilyk hält eine Rede

Iryna Tsilyk

interview

Die Filmemacherin Iryna Tsilyk über den Krieg in der Ukraine

Iryna Tsilyk war als erste ukrainische Regisseurin zum Sundance Film Festival in den Wettbewerb geladen. Und sie wurde für ihre Doku „The earth is blue as an orange“ ausgezeichnet: Sie portraitierte eine Familie im Donbass unter russischem Beschuss. Jetzt führt Putin Krieg gegen die ganze Ukraine.

Von Maria Motter

„Wir sehen das wahre Gesicht des russischen Faschismus und alles, was gerade geschieht, ist die Anstrengung, alles zu unternehmen, um mein Land und die Demokratie und alle europäischen Werte, die wir haben, zu vernichten", sagt Iryna Tsilyk und ihr zwölfjähriger Sohn schaut kurz in die Webcam und winkt. Seit Jahren dokumentiert die Autorin und Filmemacherin Kriegszustände und das Bemühen von Menschen, ihr Leben trotzdem zu leben. Sie hat Frauen im ukrainischen Militär porträtiert und in ihrer preisgekrönten Doku „The earth is blue as an orange“ zeigt sie eine alleinerziehende Mutter und deren vier Kinder im umkämpften Gebiet Donbass.

Das herzzerreißende Porträt ist im Vorjahr auf vielen internationalen Filmfestivals gelaufen, auch beim Wiener „This Human World“ Filmfestival war es zu sehen. Darin geht es allerdings vor allem ums Leben.

Die ukrainische Filmemacherin Iryna Tsilyk

Julia Weber

Die ukrainische Regisseurin und Autorin Iryna Tsilyk hat Kriegszustände und den Wunsch, das Leben so gut wie möglich zu leben, in ihren Arbeiten dokumentiert.

Seit Donnerstag bin ich mit Iryna Tsilyk in Kontakt, gestern Abend habe ich sie interviewt und heute mit ihr geschrieben. Die Nacht in Kiew war laut, in den Morgenstunden brannten unweit ihres Wohnhauses russische Militärlastwägen mit Munition, ein Panzer, zwei Autos.

Iryna Tsilyk: Ich denke, sie hatten auf einen Blitzkrieg gehofft und angenommen, dass es ziemlich einfach werden würde. Aber die ukrainische Armee leistet Widerstand. Und wir, die Zivilbevölkerung, geben unser Bestes. Klarerweise wissen wir, wie man sich verhalten, sich in Schutz bringen sollte während Angriffen und wie man anderen Hilfe leistet. Und so uneins und verschieden die Menschen sind, wenn wir in Not sind, stehen wir füreinander ein und das merke ich jetzt in jeder Minute.

Maria Motter/FM4: Dieser große Patriotismus mag erstaunen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat an Putin gerichtet gesagt: „As you attack, it will be our faces you’ll see, not our backs“. Du hast dich ähnlich geäußert, du hast wenige Stunden nach Beginn des Kriegs Russlands gegen die Ukraine gepostet, du wirst in Kiew bleiben. Das mag überraschen. Viele Menschen haben versucht, ihr Leben zusammenzupacken und außer Landes zu fliehen.

IT: Der Krieg dauert jetzt seit acht Jahren in der Ukraine an, aber klarerweise ist das ein andere Art des Kriegs gewesen. Ich fühle mich durch die vielen Aufenthalte in Donbass auf gewisse Weise vorbereitet. Es klingt verrückt, aber Menschen gewöhnen sich an Kriegszustände. Aber wir waren nicht auf diese komplette, massive Invasion in unser Land vorbereitet. Ich kann nicht glauben, dass sie mein Kiew unter Beschuss nehmen – mit all seinen wunderschönen Kirchen und Bauten. Zugleich sehe ich so viele mutige Menschen um mich herum und das gibt mir das Gefühl, dass wir Widerstand leisten werden bis zum Ende. Das klingt gewiss pathetisch, aber es ist wahr, weil wir für unsere Freiheit kämpfen und das schon so lange. 2014 war die Armee so schwach und wir waren nicht wirklich vorbereitet. Aber jetzt ist die Armee stark und die meisten werden kämpfen bis zum Ende. Was Zivilist*innen betrifft, ist es auch wichtig, in unseren Städten zu bleiben. Ich verstehe natürlich Menschen mit kleinen Kindern und alten Menschen, die zu überleben und in sichere Gebiete in Europa zu flüchten versuchen. Aber so viele bleiben in den großen Städten und sie versuchen ihr Bestes, zu überleben und unser Militär zu unterstützen. Aber wir brauchen die Unterstützung der Außenwelt. Das ist eine schwierige Frage, aber ich bin sehr enttäuscht, weil uns Länder Unterstützung versprochen haben, aber tatsächlich ist es nicht genug. Die Maßnahmen reichen nicht aus. Ich sehe, dass der Feind Russland gerade alles dransetzt, uns zu ermorden. Und wir brauchen Hilfe, aber es wirkt, als ob die westliche Welt ängstlich wäre und sie nicht wüssten, welche nächsten Schritte sie setzen sollten. Aber wenn sie uns mit diesem großen Krieg alleine lassen, wird er bald nicht nur en Problem für ganz Europa sein, sondern für die ganze zivilisierte Welt. Davon bin ich überzeugt. Wir müssen zusammenhalten.

MM: Die EU hat die zweite Stufe des Maßnahmenpakets an Sanktionen beschlossen, aber SWIFT bleibt unangetastet. Du hast die Simpsons mit ihrer Solidaritätsbekundung zur Ukraine und Bilder von Demonstrationen in New York und Georgien gepostet. Es gibt symbolische Solidarität, aber damit drücken Menschen einfach ihre Gefühle aus.

IT: Zuvor habe ich über die Politiker und Staatstragende gesprochen, aber nicht von den Menschen. Wir sehen die riesige Zustimmung von Menschen weltweit und das ist sehr inspirierend. Meine Familie und ich haben so viel Hilfe angeboten bekommen, teils von Personen, die ich kaum kenne. Sie bieten uns Unterkunft in ihrem Zuhause und finanzielle Unterstützung an. Also ja, der Unterschied zwischen 2014 und jetzt ist gewaltig. Wir sehen, dass Menschen an so vielen Orten der Welt jetzt wissen, dass die Ukraine nicht Russland ist. Diese Unterstützung hilft sehr, stark zu bleiben.

MM: Wie ist die Situation in deinem Zuhause, in deinem Wohnhaus und deiner Nachbarschaft? Wie waren die letzten 60 Stunden?

IT: Wir versuchen, ständig in Verbindung zu sein und alle Infos zu bekommen. Es ist, als lebe ich in einem niemals endenden Messaging. Ich versuche, mit ausländischen Journalist*innen zu sprechen, weil ich verstehe, dass ihr diese Fenster in unser Zuhause jetzt braucht, aber es ist surreal: Wenn es ruhig ist, haben wir Zeit, uns zu unterhalten, zu kochen oder etwas vorzubereiten. Wenn wir die Sirenen hören, rennen wir auf den Gang oder zu Schutzräumen. Wir haben Glück: Der Schutzraum unseres Wohnhauses ist im ersten Stock.

MM: Du bist noch in Kiew?

IT: Ja, in unserer Wohnung und ich werde nicht weggehen. Vielleicht zu Freunden in deren Wohnung, um zusammen zu sein. Aber ich will Kiew nicht verlassen. Ich weiß, das ist kontrovers, weil mein Kind bei mir ist und mein Mann Reservesoldat ist. Er bereitet sich gerade aufs Kämpfen vor. Er wartet auf die Möglichkeit. Weil gestern sind so viele Menschen zum Meldepunkt gekommen, dass es geheißen hat, er solle noch warten. Es gibt so viele Freiwillige. So viele Freunde werden jetzt Soldat*innen, auch Freundinnen. Ich bleibe bei meinem Kind und schütze unser Leben und passe auf unsere Wohnung auf, so gut ich kann.

Filmszene aus "The earth is blue as an orange"

Viacheslav Tsvietkov/Albatros Communicos, Moonmakers

Eine Szene aus Iryna Tsilyks Doku The earth is blue as an orange”, die u. a. am Sundance Film Festival und der Berlinale gezeigt wurde. Iryna Tsilyk hat damit eine Familie in der seit Jahren umkämpften Donbass Region portraitiert.

MM: Dein Mann Artem Chekh ist auch Künstler, er ist Schriftsteller. Hat er eine militärische Ausbildung?

IT: Mein Mann ist keine Militärpersönlichkeit, und ja, er ist Autor, einer der leuchtendsten seiner Generation, aber 2015 hat er begonnen, in der Armee zu dienen. Er war eineinhalb Jahre im Grenzgebiet und hat diese Erfahrung. Für unsere Familie war es surreal und sehr schwer vorstellbar – dass ich, eine Frau des 21. Jahrhunderts, auf meinen Mann warte, dass er aus dem Krieg zurückkommt. Das war schwer. Und jetzt ist es noch fordernder, weil das eine andere Art Krieg ist, viel gefährlicher. Sie kommen, um uns zu töten. So viele Menschen werden sterben, das klingt entsetzlich, aber ich sehe keinen anderen Weg. Wenn sie unser Land überfallen, unsere Freiheit und Würde zerstören wollen, ist es unmöglich, passiv zu sein.

MM: Wie seid Ihr versorgt? Habt Ihr Essen?

IT: Nach den ersten Angriffen Donnerstagfrüh ist es ruhig geworden und wir haben festgestellt, dass wir kein Katzenfutter zuhause haben und auch nicht viel Essen. Wir hatten so vieles nicht vorbereitet. Also waren wir schnell einkaufen, haben Geld behoben – auch darauf hatten wir vergessen. Das ist verrückt. Wir haben monatelang über die Möglichkeit von Krieg gegen unser Land gesprochen, aber als der Krieg begonnen hat, waren wir nicht vorbereitet. Ich hatte von Mittwoch auf Donnerstag nach langer Zeit gut geschlafen. Mein Handyakku war leer. Ich bin aufgewacht und habe kapiert, dass eine massive Invasion Russlands läuft.

MM: Wie siehst du den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski und wie er agiert? Selenksi ist ja eigentlich Jurist. Karriere hat er aber als Schauspieler gemacht. 2019 gewinnt er die Präsidentschaftswahl, gegen Korruption und für Frieden im Donbass ist er angetreten.

IT: Ich bin sehr überrascht von ihm, weil ich mich stets zu seinen größten Kritiker*innen gezählt habe. Ich habe ihn nicht gewählt und ihn nicht respektiert. Aber jetzt verhält er sich mutig, daher vertraue ich ihm. Ich hoffe, er ist aufrichtig. Weißt du, wenn Menschen ihr Verhalten ändern, verändern wir auch unsere Einstellung.

MM: Was wünscht du dir am meisten – abgesehen von selbstverständlich Frieden und ein Ende des Krieges?

IT: Vielleicht bin ich gerade viel zu mitgenommen, aber ich will den Menschen in der Welt sagen: Bitte, benützt eure Vorstellungskraft und versucht zu verstehen, dass euer Land das nächste Ziel eines Tyrannen sein könnte. Wir haben niemals gedacht, dass dieser große Krieg auf die moderne Ukraine zukommt. Aber er ist so rasch und auf so zynischem Weg gekommen. Putin zielt auf Kindergärten und Wohnhäuser, auf uns Menschen. Es ist sehr wichtig, zu begreifen, dass das nicht unser Krieg ist. Es ist Russlands Krieg gegen ganz Europa. Und je schneller man das kapiert, desto besser wird es für uns alle.

MM: Bist du mit einem derart starken Glauben an die Demokratie, mit einem derartigen Vertrauen in die Demokratie aufgewachsen?

IT: Als Kind und Teenager in Kiew war ich von Gedanken an Demokratie in meinem Land oder an das neue Gesicht einer freien Ukraine weit weg. Ich war ganz anders. Ich war ein Russisch sprechendes Kind. Erst später habe ich begonnen, Ukrainisch zu sprechen und mich für ukrainische Kultur zu interessieren. Und es war ein langer Prozess, eine Identitätsfindung. Den Menschen um mich ging es nicht anders. Es gibt so viele verschiedene Menschen in der Ukraine, es ist ein großes Land, und unglücklicherweise sind wir nicht sehr eins miteinander, aber jetzt sehe ich, wie die Menschen zusammenhalten. Wir leisten alle zusammen Widerstand.

mehr Politik:

Aktuell: