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„Die Größenordnung dieses Krieges ist unvorstellbar“

Letzten Sonntag war Herwig G. Höller bei FM4 Im Sumpf zu Gast, ein ausgewiesener Kenner Russlands und der Ukraine. Im Interview mit Thomas Edlinger spricht er unter anderem über die Lage der russischen Opposition, die „roten Mappen“ von Wladimir Putin und darüber, warum Solidaritätsaktionen wichtig sind.

Radio FM4: Du hast in einem Tweet davon gesprochen, dass wir in der Zeit des Hochstalinismus angekommen sind, bezugnehmend auf die Repressionen gegen Medien in Russland.

Herwig G. Höller: Es gibt jetzt Gesetze, die so derart drakonisch sind, dass selbst vergleichbare Bestimmungen aus der Stalinzeit fast liberal erscheinen.

Radio FM4: Was ist das Stalinistische daran?

Herwig G. Höller: Ich habe von Spätstalinismus geschrieben, weil ich in vielen dieser öffentlichen Erklärungen Russlands Diskurselemente sehe, die man auch im Spätstalinismus nach 1945 hatte. Das Bild, das Putin von der Ukraine hat, lehnt sich an an dieses Bild, das die Sowjets 1944/45 von der Westukraine hatten. Die russische Armee würde jetzt wie die sowjetische Armee damals die Ukraine sozusagen befreien. Und die ukrainischen Nationalisten seien so etwas wie damals in diesen Nachkriegsjahren die Aufstandsarmee, die von etwa 1944 bis 1952 Widerstand gegen die sowjetischen Machthaber geleistet hat. Ich habe den Eindruck, dass hier Wladimir Putin in seiner Studienzeit beim KGB die diesbezüglichen Lehrbücher gelesen hat.

Herwig G. Höller schreibt als Journalist für die APA, derStandard, springerin und auch russische Kulturmedien wie colta.ru.

Radio FM4: Viele waren überrascht davon, dass Putin tatsächlich einen Angriffskrieg beginnt. Hat dich das auch überrascht?

Herwig G. Höller: Ich habe es eigentlich seit Ende November für möglich erachtet, weil eben dieser russische Staat sich in den letzten 22 Jahren so entwickelt hat, dass eine Person allein Entscheidungen treffen kann und es praktisch keine erkennbaren „checks and balances“ mehr gibt, wodurch einfach alles möglich wird. Wir haben das sehr gut gesehen am 22. Februar, als es diese Sitzung des russischen Sicherheitsrates gab, die teilweise im Staatsfernsehen ausgestrahlt wurde. Da hat man gesehen, dass selbst die Leute, die eigentlich in diesem Kollegialorgan zentral involviert sein sollten in Entscheidungen von so großer historischer Tragweite, offensichtlich vorweg darüber nicht informiert worden waren.

Radio FM4: Das ist auch eine an den Stalinismus gemahnende Entwicklung, dieser pyramidale Aufbau von politischer Macht, die sich auf eine Person zentriert, wo auch der höchste Berater in Angst leben muss.

Herwig G. Höller: Wir haben diese Angst auch gesehen in dieser Sitzung des Sicherheitsrates, da gab es eine ganz legendäre und wohl auch historische Szene, als der eigentlich sehr selbstbewusste und rhetorisch sehr gewandte Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergei Naryschkin, begonnen hat zu stottern. Man hat den Eindruck gehabt, er hat in diesen Abgrund geblickt, aber er hat sich nicht getraut zu widersprechen. In der Sowjetunion gab es, zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg, eine doppelte Machtstruktur. Da gab es einerseits staatliche Organe und andererseits Parteiorgane, und die haben unter anderem die Rolle gespielt, die staatlichen Organe zu kontrollieren, also insbesondere auch die Geheimdienste. Das ist ein großer Unterschied zu heute.

Radio FM4: Putin geht ein großes Risiko ein. Wozu eigentlich?

Herwig G. Höller: Das Problem ist, dass Putin offensichtlich seit geraumer Zeit, gerade in Bezug auf die Ukraine, Informationen erhält, die offensichtlich mit den tatsächlichen Entwicklungen sehr wenig zu tun haben.

Radio FM4: Aber wie ist das möglich? So jemand wie Putin wird doch nicht nur russische Geheimdienstberichte interpretieren, er wird ja wohl auch mal einen westlichen Fernsehbericht, mal einen westlichen Artikel irgendwo aufschnappen.

Herwig G. Höller: Wir wissen es einfach nicht genau, weil eben dieser Kreml letztendlich eine riesige Blackbox ist. Putin hat immer wieder gesagt, dass er das, was in seinen „roten Mappen“ liegt, also Berichte, die ihm die drei russischen Geheimdienste vorlegen, viel eher glaubt als alles andere, was er sonst noch lesen könnte. Hinzu kommt, dass er jemand ist, der kein Internet verwendet. Das ist ein Faktor, der historisch wohl berücksichtigt werden wird müssen. Man hat den Eindruck, dass Corona und diese massivste Isolation des russischen Präsidenten dazu geführt haben, dass die Kanäle vernünftiger Gesprächspartner, die einfach adäquat berichten, was in der Welt passiert, zunehmend zugeschüttet worden sind. Da gibt es diese absurde Geschichte, dass seit 2020 jeder, der Putin unmittelbar treffen wollte, mit Ausnahme von Regierungschefs, vorher zwei Wochen in Selbstisolation gehen musste. Diese Regel galt auch für superenge Vertraute von Putin, wie zum Beispiel den Chef von Rosneft oder den Chef von Gazprom.

Radio FM4: Welche Perspektiven siehst du eigentlich für Opposition in Russland?

Herwig G. Höller: Kurz- und vielleicht auch mittelfristig praktisch keine. Ich erwarte mir nicht, dass es Demonstrationen von liberalen, vielleicht sogar nationalen Putin-Kritikern geben wird, die kurzfristig die Lage in Russland verändern werden. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, dass praktisch alle Oppositionellen, die kritische Intelligenzija, in einer ziemlichen Panik, die durchaus begründbar ist und die sich auf reale Entwicklungsmöglichkeiten bezieht, zu Tausenden Russland verlassen. Ich sehe die ganze letzte Zeit, wie enge Freunde, Kollegen, Journalisten, Künstler aus Russland fliehen.

Radio FM4: Das heißt, es gibt nicht nur eine Fluchtbewegung aus der Ukraine, sondern auch aus Russland.

Herwig G. Höller: Ich würde nicht ausschließen, dass es zu riesigen Verhaftungswellen in Russland kommen wird und alle betroffen sein könnten, die irgendwann einmal aufgefallen sind in diesem Land. Mittelfristig könnten natürlich diese wirtschaftlichen Sanktionen so eine Wirtschaftskrise produzieren, die selbst nach Angaben von Oleg Deripaska, diesem Oligarchen, dreimal schlimmer sein könnte als die Wirtschaftskrise des Jahres 1998. Dann wird schon ein großes Problem darin bestehen, die Bevölkerung zu befrieden.

Radio FM4: Viele Leute posten jetzt ihre eigenen Ängste auch in Österreich. Gibt es aus deiner Sicht eigentlich einen Grund für diese Ängste hierzulande?

Herwig G. Höller: Also wenn der Krieg in der Ukraine nicht bald zu Ende ist, wird es ein Problem geben mit der Saat. Die Ukraine ist ein ganz wichtiger Agrarlieferant und dadurch wird es einfach eine ziemliche Inflation am Lebensmittelmarkt geben. Das ist noch ein optimistisches Szenario. Wir werden sehen, wie es mit der Energiesicherheit weitergeht.

Radio FM4: Deutschland hat quasi von einem Tag auf den anderen angekündigt, 100 Milliarden Euro in Aufrüstung zu stecken. Auch Österreich will sein Militärbudget erhöhen. Ist das eine sinnvolle Maßnahme?

Herwig G. Höller: In einem gewissen Ausmaß wird es wohl auch in Österreich sinnvoll sein. Das Wichtigste, was man in Österreich machen muss, ist, die Demokratie zu verteidigen. Wahrscheinlich werden das weniger Bodentruppen sein als vielmehr Dinge, um eben die Institutionen des Staates, die Regierung, den Bundespräsidenten, das Parlament und so weiter zu schützen. In Österreich hatten wir aus traditionellen Gründen nie so etwas wie eine Spionageabwehr. Die Spionageabwehr in Österreich war eigentlich immer eine Lachnummer. Es war politisch so gewollt, weil man davon ausging, dass niemand interessiert sein könnte, Konflikte nach Österreich hineinzutragen. Im Moment können wir aber viele Dinge einfach nicht mehr ausschließen.

Radio FM4: Es gibt jetzt diverse Solidaritätsaktionen in der Kunst- und Kulturwelt - Artists for Ukraine zum Beispiel im Museumsquartier, eine Bebilderung des öffentlichen Raums. Was können solche Aktionen leisten?

Herwig G. Höller: Ich glaube, es ist ein wichtiges Signal, das man einfach senden kann an die Künstler aus diesen von dieser Katastrophe betroffenen Ländern. Es ist auch ein Signal an die Öffentlichkeit in Österreich, dass wir diese Leute auch in ihrer Vielfalt, in ihrer Kompliziertheit ernstnehmen. Es ist ganz wichtig, den Leuten in der Ukraine zu signalisieren, dass man sie nicht vergessen hat und dass man nicht damit einverstanden ist, dass Menschen, die sich frei entscheiden für eine gewisse Ausrichtungen ihres Landes, dafür bestraft werden.

Radio FM4: Viele westliche Beobachter sagen, man sollte der Ukraine Waffen liefern. Ist das eigentlich sinnvoll angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen den russischen Streitkräften und den ukrainischen? Verlängert man nicht nur eine Kriegssituation, die sowieso für die ukrainische Seite rein militärisch nicht zu gewinnen ist?

Herwig G. Höller: Ich bin kein Militärexperte, um das wirklich beurteilen zu können. Ich bin mir aber nicht sicher, ob der Krieg wirklich auch für Russland kurzfristig zu gewinnen ist. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass Kiew in den nächsten 30 Tagen fallen könnte. Wir verstehen noch immer nicht ganz das strategische Ziel, das Russland hier verfolgt. Es gab ursprünglich diese Vermutung, polemisch gesagt, dass es ein Generalgouvernement im Osten der Ukraine geben könnte, das von Russland kontrolliert wird, und einen ukrainischen Staat auf der anderen Seite. Wir sehen aber, dass der militärische Druck auch auf die Zentralukraine zunimmt, auf Gegenden, die auf der rechten Seite des Dnjepr liegen. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland so viele Soldaten aufstellen wird können, die notwendig sind, um all diese Städte zu erobern. Womöglich ist das Ziel nicht, die Städte zu erobern, sondern sie einfach nur, wie es in Syrien passiert ist, zu zerstören und zu hoffen, dass die Stadtbevölkerung in dieser katastrophalen Situation Druck auf die Regierenden ausübt, zu jeder beliebigen Kondition einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Kiew ist eine 4-Millionen-Einwohner-Stadt. Das gab es noch nie in der europäischen Geschichte, dass so eine Stadt total evakuiert werden sollte.

Radio FM4: Es kann ja auch gar nicht funktionieren.

Herwig G. Höller: Das zeigt auch ein bisschen den Wahnsinn dieses Krieges, der eine Größenordnung angenommen hat, die neu ist, die unvorstellbar ist. Wenn man diese Leute alle evakuieren müsste, ist das einfach ein unvorstellbares Leid.

Diese Woche in FM4 im Sumpf: Die seit 1989 in Wien lebende russische Künstlerin Anna Jermolaewa über ihre Ausstellung „Tschernobyl Safari“. Sie zeigt einen Ort der Renaturalisierung ohne Menschen, der nun zum Truppenstützpunkt wurde. Plus: Jede Menge Musik aus und für die Ukraine.

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