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Vom Superstár zum Monstár

Tiefe Abgründe in der Hochkultur. Cate Blanchett brilliert in „Tár“ als Dirigentin, die vom Karrieregipfel in eine Abwärtsspirale taumelt. Ein hypnotischer Rorschachtest.

Von Pia Reiser

Sagen Sie bloß nicht Maestra zu ihr. Dass sich die Sprache ihrem Geschlecht beugen soll, ist Lydia Tár (Cate Blanchett) zuwider. Die Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker will auch nicht als Vorzeigefrau in einer Männerdomäne herhalten, sie habe in Sachen Gender Bias nothing to complain about. Das erklärt sie in New York bei einem Talk Adam Gopnik von „The New Yorker“ (der sich hier selbst spielt).

„Tár“ ist für sechs Oscars nominiert, unter anderem auch Monika Willi für „Best Editing“.

Társ Assistentin Francesca spricht im Publikum stumm die Passagen Gopniks mit, in denen er die funkelndsten Momente aus Lydia Társ Biografie erwähnt. Tár schafft es, größtmögliche Kontrolle darüber zu haben, wie über sie gesprochen wird, das ist etwas, was ihr später fatal entgleiten wird. Kontrolle und Perfektion sind naheliegende Grundbausteine bei der Konstruktion einer Figur, die Dirigentin ist, dennoch ist es so faszinierend wie hypnotisch, wie Regisseur Todd Field dies auf die Leinwand bringt.

Szenenbild aus "Tár"

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Tár, die auf der Suche nach einer Pose für das nächste Albumcover Schallplatten am Parkett verteilt und mit dem Fuß die Spreu vom Weizen trennt. Tár, die die Pose (die Wahl fiel auf Claudio Abbado) vor dem Spiegel einübt, sich einen Anzug bei Egon Brandstetter schneidern lässt.

Noch bevor Cate Blanchett ein Wort spricht, haben wir ein Bild von Lydia Tár, die nicht nur eine ungewöhnliche Filmfigur ist, weil sie eine lesbische Chefdirigentin ist, sondern vor allem, weil sie eine nicht liebenswürdige weibliche Hauptfigur ist. Von denen gibt es nicht allzu viele. Blanchett spielt diese Figur leinwandfüllend unangenehm, fordernd und manipulativ. Das schwierige Genie, eine recht etablierte Figur in der Kulturwelt (und auf der Leinwand) ist diesmal eine Frau.

Neben Perfektion ist der Umgang mit Zeit essentiell für Lydia Tár - und für den Film. Im Gespräch mit Gopnik erklärt sie, dass sie das Musikstück beim Dirigieren mit ihrer linken Hand forme, ihre rechte Hand aber könne die Zeit anhalten. Es ist kein Zufall, dass Lydia Tár später, als Perfektion und Kontrolle im rasenden Tempo einer Abwärtsspirale verlorengehen, eine verletzte rechte Schulter hat. Das Werkzeug zum Zeitinnehalten ist ramponiert. Und wie ein Musikstück weist auch der Film eine großartige Verwendung von Tempowechseln zum Spannungsaufbau auf. Ruhige, lange Szenen bestimmen den Beginn des Films, „Tar“ lässt einem hier Luft zum Atmen, um einen später zum Luftschnappen zu bringen.

Szenenbild aus "Tár"

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Die kühle Ruhe des Films, die schlichte Eleganz der Räume, in denen Tar sich bewegt, ihre grundsätzlich als abgesichert und fern von profanen Sorgen gezeigte Welt werden aber von Anfang an dezent gestört von einem Gefühl des Unbehagens. Als eine ehemalige Studentin Selbstmord begeht, tickt ein Metronom den Fall von Lydia Tár ein. Sie wird nachts von Geräuschen geweckt, sie hört Schreie im Park (laut International Movie Database sind es die letzten Schreie von Heather aus „Blair Witch Project“), der Hauch einer Geistergeschichte nistet sich in dem an sich so realistischen wie abgeklärten Setting ein, die Vergangenheit streckt ihre Finger nach der Dirigentin aus. Ich muss an Filme von Christian Petzold und Olivier Assayas denken, deren Filme ebenfalls nicht alles auserzählen und schon gar nichts erklären wollen. Das mag frustrierend für alle sein, die sich von „Tár“ einen - wie er oft verknappt beschrieben wird - Metoo- und Cancel-Culture-Film erwarten und auf einen sensationellen, mehrdeutigen Rohrschachtest in Filmform treffen.

Szenenbild aus "Tár"

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Es ist großartig, wie Todd Field diese beiden großen Themenfelder, die so viele aktuellen Diskussionen um Kunst dominieren, nur anstreift und keinen Themenfilm vorlegt. Field erzählt undurchsichtig, manchmal bewegt er sich tänzelnd auf einen Erzählpfad zu, bloß, um dann einen Haken zu schlagen.

Todd Field legt ein großartiges Biest von einem Film vor, der relativ schnell alle Zuschreibungen abschüttelt und, wenn man ihn mit Genrebezeichnungen fassen will, einem wieder entgleitet. Macht, Image, Status, deren Kontrolle und Verlust kann man im Zentrum des Films verorten, doch davon haben schon viele Filme erzählt, ohne sich inszenatorisch in die herrliche Uneindeutigkeit von „Tár“ zu wagen und so die Möglichkeiten und Freiheiten des Films zu feiern. Film hat nicht die Verpflichtung, die echte Welt zu spiegeln oder eine Vorbildwirkung auf Leinwand liefern.

Der Film fordert nicht unbedingt die Seh-, aber die Rezeptionsgewohnheiten heraus. Wenn er zu Ende ist, würde man auch gern mit der rechten Hand die Zeit anhalten, um die Wucht von „Tár“ zu verlängern. Ein Ungetüm der Großartigkeit.

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#172 FM4 Filmpodcast: „The Fabelmans“ & „Tár“

Ein Podcast als Feierstunde des Kinos: Im Mittelpunkt stehen zwei Meisterwerke, die bei den Oscars leer ausgegangen sind. Steven Spielbergs autobiografisches Coming-of-Age-Drama „The Fabelmans“ darf zu den besten Filmen des legendären Regisseurs gezählt werden. Todd Field präsentiert mit „Tár“ die psychologische Studie einer Stardirigentin (die virtuose Cate Blanchett) als Reflexion über Machtmissbrauch und Mental Health. Pia Reiser und Christian Fuchs schwärmen detailliert über die Vorzüge dieser Filme.

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