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Şeyda Kurt: „Mir geht es um einen Hass, der Zärtlichkeit hervorbringen kann“

Ihr erster Bestseller behandelte die Liebe, nun nimmt sich die freie Journalistin und Autorin Şeyda Kurt dem unschönen Gefühl Hass an. Im Interview erzählt sie vom Schreiben aus der Ohnmacht und was wir vom Hass alles lernen können.

Von Michaela Pichler

Vor zwei Jahren hat die deutsche Autorin und Journalistin Şeyda Kurt ein Buch über die Liebe geschrieben: „Radikale Zärtlichkeit“ hat sich mit der politischen Dimension der Liebe auseinandergesetzt. Wie können wir unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft freier gestalten? Nach der Veröffentlichung des Buches waren viele Fragen für Kurt noch immer unbeantwortet. Und sie wollte auf keinen Fall als verstrahlter Hippie mit Herzchen in den Augen in Erinnerung bleiben, denn auch die Gesetze der Zärtlichkeit haben ihre Grenzen. Deshalb hat sich ihr zweites, aktuelles Buch quasi aufgedrängt beim Schreiben: „Hass: Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ widmet sich dieser Emotion in all seinem politischen Potential.

Şeyda Kurt hat Philosophie und Romanistik studiert und arbeitet als freie Journalistin, Autorin, Podcast-Host und Kuratorin.

Vom Hippie zur Haterin?

„Hass? Das ist aber ein starkes Wort.“ Diese Zeile begegnet einem in Şeyda Kurts neuestem Buch nicht nur einmal. Der Satz kommt wie ein lästiges Mantra immer wieder zwischen Kapiteln und Absätzen vor. Es ist eine oft gehörte Floskel, die Hass als negatives Gefühl abstempelt. Als Antithese zur Vernunft, zum Rationalen. Als etwas, das in unserer westlichen Gesellschaft nur ungern gesehen wird. Anders als zum Beispiel die Wut, die als ermächtigendes Gefühl schon viel akzeptierter ist, wie Şeyda Kurt im FM4 Interview erzählt:

„Sehr viele Menschen sind sehr wütend und sehr empört. Auch zu Recht. Aber der Hass hat für mich dieses Zähe, dieses Rumorende, dieses Grollende im Hintergrund. Der Hass ist zäh und hässlich. Niemand will hassend sein, weil das bedeutet, dass du hässlich bist. Niemand will hässlich sein, weil das bedeutet, dass du dann gehasst wirst. Also diese Verknüpfung von Hass und Hässlichkeit spielt da eine große Rolle. Die Scham natürlich auch - hassend zu sein, manchmal auch rachsüchtig zu sein, nachtragend zu sein, im Trauma verhaftet zu sein. Das alles spielt eine große Rolle.“

Wer hasst, hat noch nicht aufgegeben

Wo der Hass anfängt und die Wut aufhört; oder was Ignoranz mit Privileg und Kapitulation zu tun hat, all das beschreibt Şeyda Kurt in ihrer scharfsinnigen Analyse. So schreibt die Autorin und Journalistin:

„Die Empörung schimpft sich aus, die Wut lässt sich ablassen. Der Hass bleibt.“

Was also tun, wenn dieses zähe Gefühl nicht mehr weggeht? Wenn es sich in der Brust verfangen hat und im Bauch schwer liegen bleibt!? Şeyda Kurt hat sich für ihr Buch nicht nur durch Aristoteles, Kant und CO KG gewühlt. Sie hat auch nach widerständigen Momenten in der Menschheitsgeschichte gesucht, die eines vereint: Der Hass gegen eine herrschende Macht.

Gefunden hat sie den nicht nur in Sklavenaufständen und Revolutionen um das 18. Jahrhundert, in der Geburtsstunde des Staates Haiti. Der Widerstand findet sich auch in Racheaktionen der jüdischen Zivilbevölkerung im 2. Weltkrieg. Oder in aktuellen Filmen wie „Promising Young Woman“, in dem die Protagonistin den sexuellen Missbrauch ihrer besten Freundin rächt. Hass als treibende Kraft gegen Sexismus, Rassismus, Kapitalismus, Kolonialismus, gegen Menschenrechtsverletzungen.

„Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ ist Şeyda Kurts zweites Buch und ist im Verlag Harper Collins erschienen.

Şeyda Kurt

Şeyda Kurt

„Das ist dann der Moment, wo ich von strategischem Hass spreche. Also da, wo sich der Hass als dieses mobilisierende politische Gefühl äußert, was in meinen Augen eine extrem zähe Kraft hat. Das dann strategisch einzusetzen, zu säen, wo nötig, aber auch zu begraben, wo nötig. Das machen politische Bewegungen schon seit Jahrhunderten.“

Gegen die eigene Ohnmacht

Das knapp 200 Seiten lange Buch „Hass: Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ ist eine Mischung aus Essay-Teilen, persönlichen Erinnerungen, theoretischen Abhandlungen und Fiktion. Beim Schreiben hatte Şeyda Kurt trotz des vor ihr aufgefächerten Hasses immer ein fixes, zukunftsorientiertes Ziel vor Augen:

„Mir geht es um einen Hass, der auch am Ende vielleicht Zärtlichkeit hervorbringen kann. Dass vielleicht Menschen, die sich bislang sehr einsam gefühlt haben in ihrem Hass, in der Scham und im Trauma verhaftet waren und dachten ‚Okay, ich darf einfach nicht hassen, weil es so verpönt ist und es ist verboten. Es ist unmoralisch‘, dass diese Menschen irgendwie aus der Ohnmacht herauskommen. Ich glaube, dafür schreibe ich auch, um aus meiner eigenen Ohnmacht herauszukommen, aber auch, um anderen Menschen ein solidarisches Angebot aus der Ohnmacht zu geben.“

Mit diesem Anspruch hat Şeyda Kurt nun zwei Bücher geschrieben. Frei nach dem Motto des feministischen Performance-Kollektivs LASTESIS - „mit Gefühlen zu arbeiten ist ein subversives Geschenk an die Welt.“ Selbst, wenn es die unangenehmen, bedrohlichen und mächtigen Gefühle sind.

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