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„Die Brutalität an den EU-Grenzen nimmt zu, die Zeugenschaft ab“

Der 20. Juni ist Weltflüchtlingstag. Während jeder Mensch nach internationalem Recht das Recht auf Schutz hat, werden diese Rechte seit Jahren mit Füßen getreten. Mit Journalistin Franziska Grillmeier sprechen wir über die neueste Tragödie vor der griechischen Küste, ihr Buch „Die Insel“ und über die geplante Asylreform der EU.

Von Melissa Erhardt

Letzte Woche ist vor der griechischen Küste ein Fischerboot mit mehreren hundert Geflüchteten an Bord gesunken. In den Medien war dabei ja immer wieder die Rede von einem Bootsunglück, das sich ereignet hat. Kann man dabei tatsächlich von einem Unglück sprechen?

Franziska Grillmeier: Es ist natürlich so, dass sich das in dieser Systematik in den letzten Jahren enorm gehäuft hat. Ich glaube, das impliziert schon die Frage: Was ist eigentlich ein Unglück? Was ist hausgemacht? Man hat als geflüchtete Person einfach kaum eine Möglichkeit, legal nach Europa zu kommen. Die Wege haben sich immer weiter ins Verborgene verschoben. Das bedeutet, immer weitere Routen müssen genommen werden, weil sich die Brutalität entlang der Grenzen so zugespitzt hat - Stichwort illegale Push-Backs in Griechenland, zum Teil auch Entführungen an Land - womit es dann zu solchen Situationen kommt. Und das ist jetzt ein sehr, sehr drastischer Fall.

Buchcover "Die Insel"

C.H.Beck

Franziska Grillmeier hat Internationale Entwicklung und „Politics of Conflict, Rights and Justice“ in Wien und London studiert. Seit 2018 wohnt sie auf Lesbos, wo sie als freie Journalistin unter anderem für ZEIT Online, taz, Süddeutsche Zeitung, WDR und die BBC berichtet. Ihr Buch „Die Insel“ ist im März im C.H.Beck Verlag erschienen.

Europol ermittelt jetzt gegen Schleuser, die diese lebensgefährlichen Fahrten von Libyen nach Italien organisiert haben sollen. Es gibt viele Gerüchte, wer die Verantwortung trägt - Was steht da so im Raum?

Franziska Grillmeier: Was man sagen kann, ist auf jeden Fall, dass sich die griechische Küstenwache gerade enorm verstrickt in ihren Aussagen. Man muss natürlich die Frage stellen: Wie konnte es sein, dass ein Boot so lange auf dem offenen Meer war, ohne dass jemand es gerettet hat oder dass jemand Alarm geschlagen hat? Also man muss wirklich gucken: Wer lässt es zu, dass solche Boote so überfüllt sind? Das ist das eine, aber das andere ist: Warum hat keine Rettung stattgefunden? Warum dieses Verantwortungs-Pingpong die ganze Zeit? Und natürlich muss man die Aussagen der Zeug*innen ernst nehmen, die jetzt enorme Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache starten und gesagt haben: Naja, da war dieses blaue Seil, das wurde geworfen, wo es danach dann hieß, erst dann kam dieses Boot ins Wanken. Das muss jetzt aufgeklärt werden und dafür braucht es unabhängige Kontrollmechanismen. Wo wir aber in den letzten Jahren immer wieder gesehen hat, dass es genau an denen mangelt.

Du selbst bist 2017 zu Recherchezwecken nach Lesbos gereist. Ein Jahr später ist die Insel dann quasi zu deinem Zuhause geworden, du bist dort geblieben. Wie hat sich denn die Insel in den letzten Jahren verändert, vor allem seit dem Brand im Jahr 2020?

Franziska Grillmeier: Es gab diesen Höhepunkt der medialen Berichterstattung durch das Feuer - und dann rutschte man eigentlich von diesem orchestrierten Ausnahmezustand, der ja Moria war, in eine Hochsicherheitssituation. Also jetzt sind Lager aufgebaut worden, durch die EU mitfinanziert, die einen Hochsicherheitskomplex darstellen. Man hat dort Maschendrahtzaun, so einen NATO Stacheldraht, wenn man reingeht ist es ein bisschen wie am Flughafen. Man wird durchgecheckt, man kommt nur mit Chipkarte rein. Es gibt so Drehkreuze, es gibt Kameras. Also statt dieser gezielten Verwahrlosung von davor hat man jetzt einen sterilen Hochsicherheitskomplex geschaffen, wo die Menschen unter Beobachtung stehen und es auch viel schwieriger geworden ist, zu verstehen, was da eigentlich vor Ort passiert. Für Journalist*innen ist es schwer geworden zu berichten. Es gab generell einen enormen Abbau der Pressefreiheit bei diesem Thema, auch an anderen Grenzorten. Gerade in Ausnahmesituationen wie zum Beispiel Polen, Belarus oder auch an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien.

Gleichzeitig wurde die humanitäre Hilfe immer weiter kriminalisiert. Es gibt kaum mehr Zeug*innen an den Grenzen, was es für die Behörden wiederum einfacher gemacht hat zu sagen, also diese Rechtsbrüche, die wir hier tagtäglich systematisch ausüben, die können auch unbeobachtet passieren. Und da gibt es viele investigative Recherchen, die darauf hinweisen.

Du tauchst in deinem Buch „Die Insel“ nicht nur in die Lebenswirklichkeit der geflüchteten Menschen ein, du näherst dich dem Thema natürlich auch auf einer politischen Ebene. Bleiben wir vielleicht gleich bei Lesbos. Wie zeigt sich denn dort die EU Asylpolitik und wie sie funktioniert oder eben versagt?

Franziska Grillmeier: Ich glaube, wo man ganz klar sehen kann, wie sie sich ausdrückt, ist in der Architektur der Lager. Diese Hochsicherheitslager, die suggerieren: Hey, ihr werdet hier als schutzsuchende Personen in Haft-ähnliche Bedingungen gesteckt. Und das Wort benutze ich ganz bewusst, weil es wirklich so aussieht und das auch suggeriert. Wir sehen aber natürlich auch diese rechtlosen Räume, die sich um diese Inseln herum gewunden haben, dass man jetzt eben kaum mehr Zeugenschaft hat, dass die Brutalität sich durch die Pushbacks und die Entführungen an Land zum Teil so zugespitzt haben, dass man wirklich davon sprechen muss, dass Völkerrecht und internationales Recht systematisch gebrochen wird und das kaum Folgen hat. Was ich auch immer wieder betonen möchte, ist, dass während sich diese Brutalität an den Grenzen immer weiter ausweitet, die Zeugenschaft abnimmt. Und man muss fragen: Wie geht man mit diesen Spuren der Verwüstung um? Und warum kann das so folgenlos bleiben? Ich glaube, das sind alles Fragen, die wir uns stellen müssen, auch die Fragen nach der Verantwortung.

Die EU-Innenminister haben sich jetzt auf eine Verschärfung der EU Asylregeln geeinigt. Der Kompromiss sieht zum Beispiel vor, sehr viel strikter mit Geflüchteten umzugehen, die eine sehr geringe Chance auf Bleiberecht haben. Das heißt Geflüchtete, die aus Staaten kommen, die aus „relativ sicher“ gelten, könnten nach dem Grenzübertritt in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Es soll außerdem die Möglichkeit von Kompensationszahlungen geben, Länder können sich dann quasi von der Pflicht, Schutzsuchende aufzunehmen, freikaufen. Was ist deine Einschätzung zu diesen geplanten Neuerungen?

Franziska Grillmeier: Es ist leider so dass sich dann nichts an der aktuellen Situation verändern wird. Im Gegenteil, ich fürchte eher, dass es zu einer Verrechtlichung des Unrechts führen könnte, nämlich dass wir dann eine Situation haben, in der die Pushbacks weiterhin stattfinden können, weil die Mitgliedsstaaten an den Rändern sagen werden: Wir wollen trotzdem nicht, dass die Leute hier feststecken. Das hat uns die Vergangenheit gezeigt, dass dieser Solidaritäts- oder Verteilungsmechanismus nicht funktioniert. Wir hatten in der EU noch nie eine Situation, wo man sich wirklich auf eine solidarische Verteilung von Flüchtenden einigen konnte, auch wenn es schriftlich verankert wurde. Wir haben noch kein Modell, was uns gezeigt hat, dass es menschenrechtlich möglich ist, dieses Konzept umzusetzen.

Und dann stellt sich natürlich die Frage, welche Anreize es geben wird, um die eigentliche Situation, über die wir sprechen müssen, nämlich diesen Gürtel der Gewalt, aufzubrechen. Es muss es eine strafrechtliche Verfolgung von Tätern geben, die Leute auf europäischen Boden entführen, wieder zurückbringen in türkisches Gewässer und sie damit einer Lebensgefahr aussetzen. Dann ist noch die Frage, was das für das Asylsystem in Österreich und Deutschland bedeutet. Ich befürchte, dass man dann Rechtsbrüche zementieren kann und diese Verborgenheit, in der das jetzt alles stattfindet, noch weiter ausweiten kann. Da ist es natürlich umso wichtiger, dass unabhängige Berichterstattung möglich ist, dass auch unabhängige Menschenrechtsbeobachter Zugang zu diesen Räumen haben. Wenn man jetzt von den letzten Jahren ausgeht, weiß ich nicht, wie man dem positiv gegenüberstehen kann.

Das wäre jetzt meine letzte Frage gewesen: Was braucht es, um eine humanere Asylpolitik und Rechtsstaatlichkeit zu gewähren.

Franziska Grillmeier: Es braucht einfach unabhängige Berichterstattung. Es braucht eine Situation, in der Menschen sprechen können, in der auch Überlebende sprechen können, wie zum Beispiel das Schiffsunglück, wir erleben das ja jetzt. Wenn man sich die Aufnahmen ansieht, die Menschen sprechen zum Teil hinter Gittern mit den Journalisten, Journalistinnen. Zum Teil war es gar nicht möglich, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Sie sind ja die ersten, die das erleben, Zeugenschaft ablegen. Und das braucht man alles, um prüfen zu können, was passiert ist? Und ich finde, um überhaupt von einer humaneren Politik sprechen zu können, muss man sich erst mal wieder auf EU-Recht, internationales Recht, nationales Recht berufen und darf einfach das Asylrecht nicht aushebeln. Und das wird ja gerade ganz aktiv betrieben. Ob jetzt man nach Europa guckt oder gerade auch nach Großbritannien. Also da muss man ganz klar sagen, worüber man hier eigentlich verhandelt.

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