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Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Bachmannpreis – Freitag bis Sonntag

Noch zwei Lesetage und die große Preisvergabe.

Elias Hirschl berichtet aus Klagenfurt

Freitag

Ich bin wieder zurück im Garten des ORF-Kärnten, kürzlich in Ingeborg Bachmann-Park umbenannt. Club Mate und Notizbuch stehen bereit, jetzt kann es losgehen mit dem zweiten Lesetag vom Bachmannpreis.

Sophie Klieeisen – Taube Früchte

Ein Text über das Humboldtforum und den vorher dort gestanden habenden Palast der Republik. Eine High Society aus Kultur und Politik findet sich zur Eröffnung des neuen Museums ein. Architektonische, politische und geschichtliche Fragen werden verhandelt, viele historische Zitate eingestreut, echte oder falsche. Strässle stellt in der Jurydiskussion das Wort Reportage in den Raum, das sofort von allen aufgegriffen wird. Kastberger – heute im Tauben-T-Shirt wie Twitter anerkennend bemerkt – sieht darin eine brilliante Satire auf die Kulturszene. Zu meiner Überraschung ist es plötzlich Tingler, der mir eine komplett neue Sicht auf die Geschichte ermöglicht, als er anmerkt, dass die Protagonistin, Greta, Ziegenlederstiefel trägt und keinen Schatten wirft. Die Protagonistin ist eine Mephista, der personifizierte Teufel. Im Namen „Greta“ will Tingler hingegen keine tiefere Bedeutung sehen, auch interessant.

Martin Piekar – Mit Wänden sprechen / Pole sind schwierige Volk

Im Gegensatz zum vorherigen Text eine sehr konkrete Geschichte, in normaler aber trotzdem lyrischer Sprache erzählt. Ein Sohn, der mit seiner trinkenden Mutter auf engstem Raum zusammen lebt. Er spielt Warcraft3, sie redet mit der Wand. Er hört Metal, sie redet noch lauter mit der Wand. Schließlich ein Schrei, ein lauter echter Schrei, den Martin Piekar auch auf der Bühne loslässt, wie schon einige Metal-Growls vorher, und dann ein langer Monolog der Mutter, die endlich eine Sprache gefunden hat, um ihre Kriegstraumata und ihr Leben in Deutschland in Worte zu fassen.

Martin Piekar beim Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Die Jury ist größtenteils angetan, findet den Text unperfekt, wild aber stark. Kastberger meint man hätte ein paar Passagen kürzen können, Tingler findet es ist eher ein Text zum Hören als zum Lesen, aber so ist das Format hier nunmal.

Jacinta Nandi – Zeitmaschine

Von der Stimmung auf Twitter her instant eine Kandidatin für den Publikumspreis. Ein Text über eine alleinerziehende, koksende Mutter, die überlegt, ob sie ihren Mann töten soll. Der Text hat einen irrsinnigen Drive, es ist, so viel kann ich schon mal sagen, der lustigste Text des Bewerbs. Ich hab mir so viele Sätze notiert: „Deutsche Mütter sollen immer tot sein, und ihre Kinder töten wollen.“, „All die deutschen Omas, die denken, du solltest sterilisiert werden, weil dein Kind zu viel Spaß am Rechner hat.“

Es ist aber auch ein tief tragischer Text. Die Protagonistin fragt sich, ob sie in einer Gewaltbeziehung lebt, ob das wirklich Gewalt sein kann. Kann es überhaupt Gewalt sein, wenn das ganze Land gewalttätig ist, wenn das ganze Land einen jeden Tag töten will?

Die Jury ist gespalten und vor allem verwirrt. Sie weiß nicht, wie sie mit einem lustigen Text umgehen soll, wie jedes Jahr. Aus irgendeinem Grund wird wieder Witz mit Konventionalität gleichgesetzt. Es wird immer wieder von Comedy gesprochen, was ich wirklich nicht nachvollziehen kann. Ich hoffe auf den Publikumspreis, auch wenn die Künstlerwohnung gar nicht für Menschen mit Kindern geeignet ist. In ihrem Schlusswort merkt Jacinta Nandi auch an, sie wünsche sich für nächstes Jahr eine angemessene Kinderbetreuung auf dem Bachmannpreis.

Anna Felnhofer – Fische Fangen

Ein exakt durchkomponierter, tragischer, dichter und kurzer Text über ein Kind mit Gesichtsblindheit, das in der Schule gemobbt wird. Wobei ich beim Notieren sofort merke, was für ein unzureichendes, ja eigentlich verharmlosendes Wort „Mobbing“ ist. Denn was hier stattfindet ist Gewalt. Gewalt durch die anderen Schüler, Gewalt durch die Mutter, Gewalt von allen Seiten. Anna Felnhofer schafft es dabei, diese Gewalt ohne Moralisierung und trotzdem mit größtem Respekt darzustellen und vor allem die Tatsache, dass sich der Protagonist der Geschichte mehr und mehr mit seinen Tätern identifiziert. Oder weniger identifizert, also einfach ihre Gewalt versteht. Er versteht sich und die Täter gleichermaßen als Rädchen in einer Maschine, die einfach laufen muss, die nie anhalten kann.

Anna Felnhofer beim Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Die Jury ist durchwegs begeistert, sogar Tingler. Kastberger bemüht einen Essay von Jean Améry über Folter und eben genau dieses Tabu der Identifikation oder des Verständnisses der Opfer für ihre Folterer, für die Täter. Ich hoffe stark auf Bachmannpreis.

Ein Gespenst am Lendhafen

Am Freitagabend trat dann noch die Wiener Indie-Band Ein Gespenst am Lendhafen im Bachmannpreis-Rahmenprogramm auf und tags darauf gleich nochmal im Kulturhof Villach. Da ich leider selbst Teil dieser Band bin kann ich nicht angemessen objektiv darüber berichten, aber mir wurde zugetragen, dass es gar nicht so schlecht gewesen sein soll.

Samstag

Aus Müdigkeitsgründen berichte ich den Samstag zur Ausnahme mal vom Bett aus. Auch das hat seine Vorteile, man kann sich immer noch einen Kaffee holen, man muss sich nicht angemessen kleiden oder sich überhaupt aus der Horizontalen fortbewegen – kann nur empfehlen!

Yevgeniy Breyger – Die Lust auf Zeit

Ein Text über einen Vater der einen Schlaganfall erleidet. Ein Text zum Teil in der Du-Perspektive, weil der Vater adressiert wird. Auch ein Text, wie die Jury später anmerkt, der die Zeit bis ins Unendliche dehnt, da auf der Handlungsebene fast keine Zeit verstreicht, innerhalb derer aber alles erzählt und gesagt werden kann. Ein Text über Lust und Leid. Universelles Leid ist schlimmer als individuelles Leid, weil der Mensch zum Leiden gemacht ist, aber nicht die Gesellschaft.

Tingler findet den Diskurs zu beliebig. Er sagt, der Text war so mittel. Das hat er btw. letztes Jahr auch über meinen Text gesagt.

Mario Wurmitzer – Das Tiny House ist abgebrannt

Ein Text über modernen Kapitalismus, über individualisiertes Welt-Retten und Über-die-Runden-Kommen. Ein junger Mann wird dafür bezahlt, dass er in eine Tiny House in einer Musterhaus-Siedlung zieht. Dort wartet er darauf, dass der Schriftseller Rainald Götz ihn besuchen kommt. Währenddessen fackelt ein Unbekannter ein Tiny House nach dem anderen ab. Auch interessant, dass das schon der zweite reale Autor ist, der hier in eine Geschichte hineingezogen wird, wie bei Anna Gien schon, die Thomas Bernhard von den Toten zurückholte. Die Jury hat überwiegend Lob parat, vor allem Tingler, der den Text eingeladen hat.

Bester Satz von Insa Wilke: „Ich nehme jetzt meinen Hammer, gehe zu den Marketingleuten und randaliere.“ Später festgehalten in einem Video wo Insa Wilke und Mario Wurmitzer mit Hammer in der Hand vor dem ORF stehen und die Straße bearbeiten.

Laura Leupi – Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

Ein von A nach Z durchexerzierter Text über sexualisierte Gewalt. Der Text folgt der völlig arbiträren Reihenfolge des Alphabets. Funfact: Es gibt keinen guten Grund warum das Alphabet in der Reihenfolge ist in der es ist und nicht in einer anderen.

Meiner Meinung nach einer der besten, wenn nicht der beste Performance-Vortrag dieses Bewerbs. Laura adressiert immer wieder direkt Publikum und Jury, fragt direkt nach: Wie sehen Sie mich jetzt? Welches Bild machen Sie sich von mir? Absolut sicherer Vortrag, das muss wirklich lange einstudiert worden sein.

Laura Leupi beim Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Der Text selber ist, gerade weil er sich so strickt am Alphabet entlanghangelt, alinear erzählt, mit lyrischen Einschüben und Fragen. Das Alphabet als Stütze für ein Thema das nicht linear behandelt werden kann. Wörterbuch-Methoden wo einem die Wörter fehlen. Mich überrascht nur, dass weder die Jury noch Twitter gemerkt haben, dass das Q fehlt.

Deniz Utlu – Damit du sprichst

Und so schnell sind wir schon beim letzten Vortragenden. Deniz Utlu hat das schwere Los gezogen einen Text über seine Familie zu lesen, als allerletzter, nachdem es schon mindestens drei, vier Texte über schwierige Mutter- und Vater-Beziehungen gab. Ich merke leider auch selber, dass die Konzentration nachlässt, deshalb kann ich den Vortrag auch wirklich nicht adäquat wiedergeben. Ein Text über einen Vater der in einer Art Koma liegt. Laut Arzt im Text ist es das apallische Syndrom. Laut random nervender Person von Twitter die alles besser weiß ist es das Locked-In-Syndrom.

(Kleiner Einschub an der Stelle: Circa zu diesem Zeitpunkt am frühen Samstag Nachmittag bricht plötzlich Twitter zusammen, zeigt so gut wie überhaupt keine neuen Tweets mehr an und das bleibt so bis mindestens Sonntag Mittag. Danke für nichts Elon Musk.)

Die Mutter des Erzählers schlägt sich ohne den Vater mit Bürokratie herum die nicht einmal ihre Muttersprache spricht. Sie übernimmt schließlich die Betreuung für den Vater, weil sie nicht zusehen will, wie er im Krankenhaus nur noch aufgeschnitten und zusammengenäht wird.

Die Jury variiert zwischen schwer begeistert (Sanyal, Strässle, Wilke) und überhaupt nicht begeistert (Tingler, Kastberger). Es sei zu viel erklärt, zu auserzählt, zu konventionell. Es bricht ein Streit darübr los, was Konventionalität überhaupt bedeutet. Soviel zum letzten Lesetag.

Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Sonntag

Der Tag der Preisvergabe ist angebrochen. Die Autor:innen sitzen anders als letztes Jahr nicht im ORF-Theater sondern draußen im Garten. Der Justiziar wird herbeigerufen und erklärt das genaue Abstimmungsprozedere, das ich leider trotzdem nicht ganz verstanden habe. Die Jury gibt live mit Tablets die Punkte ein und wenige Sekunden später haben wir schon einen Punktestand. 3-Sat- und Kelag-Preis jeweils 11 Punkte, Deutschlandfunk-Preis 18 Punkte, Bachmannpreis 19 Punkte. Die Jury fasst noch einmal die Diskussionen zusammen. Sie hätte sich mehr Diskussion über die Themen Authentizität und Konventionalität gewünscht.

Die Jury ist verwirrt, weil Laura Leupi und Martin Piekar in eine Stichwahl um den 3-Sat- oder Kelag-Preis gehen. Schließlich ist es geschafft. 3-Sat-Preis an Laura Leupi, Kelag an Martin Piekar. Laura und Martin werden sodann von der Moderatorin zurück aus dem Garten hinein ins ORF-Gebäude geschickt. Laudatios folgen. Man merkt wieder, wie viele Texte dieses Jahr mit schwierigen (Klein-)Familien-Verhältnissen und engen Räumen arbeiten.

Es folgt der Deutschlandfunk-Preis und zwar für Anna Felnhofer. Ich persönlich hätte sie lieber den Bachmannpreis gewinnen sehen, aber so oder so schwer verdient für so einen wunderbaren Text.

Jetzt kommt in mir nur die Angst auf, dass Valeria Gordeev komplett ohne Preis ausgeht. Vor dem Hauptpreis werden Schnittbilder aus Bewerb und Social-Media eingeblendet. Immer schön seine eigenen dummen Tweets im landesweiten Fernsehen zu sehen.

Vor dem Hauptpreis wird aber noch der Publikumspreis vergeben, und zwar ebenfalls an Martin Piekar. Ich wusste nicht einmal dass das möglich ist, aber anscheinend kann man auch multiple Preise gewinnen. Wieder Schnittbilder. Tara Meister wird interviewt, immer gut, Tara Meister sollte man häufiger interviewen.

Endlich der Bachmannpreis! Und dann auch noch an Valeria Gordeev!! Wie man auf Twitter sagt: J@@@@@@@@@@@@@ Auch schön, weil ich nun nicht das Spülsieb essen muss, wie ich im vergangenen Text angekündigt habe, falls Gordeev nicht den Hauptpreis gewinnt. Der Preis wiegt 2,3 Kilogramm wie jetzt schon zum dritten mal von der Moderation gesagt wurde. Und mit diesen Worten verabschiede auch ich mich für dieses Jahr. Es war mir ein Fest.

Martin Piekar beim Bachmannpreis 2023

ORF/JOHANNES PUCH

Martin Piekar, Anna Felnhofer, Valeria Gordeev und Laura Leupi

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