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Heartstopper Season 2

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Kommentar

Warum „Heartstopper“ uns etwas vermissen lässt, das wir nie hatten

Eine Woche Heartstopper Season 2 und das Internet ist voll von queeren Millenials, die um ihre Jugend trauern. Woher dieses Phänomen des „Gay Grief“ kommt und warum Hearstopper nicht nur Glücksgefühle auslöst. Eine Einordnung aus der Sicht eines queeren Millenials.

Ein Kommentar von Alica Ouschan

„I just watched Heartstopper Season 2 and now I need 3-5 business days to process und recover” – so lautet das Fazit eine Woche nach dem Release, zumindest auf Social Media (und in jedem queeren Freundeskreis. Weil natürlich haben wir die zweite Staffel alle in einem durchgebinged und dann gleich nochmal geschaut bis von uns nichts mehr übrig blieb als ein emotionales Wrack). Genau wie im Frühjahr 2022 hat uns die zuckersüße und überaus wholesome Lovestory zwischen Nick & Charlie und ihr mindestens genauso atemberaubend toller Freundeskreis also auch jetzt wieder fest im Griff. Alle Popkulturportale der Welt sind voll davon, schon jetzt wird die dritte Staffel sehnlichst erwartet. „Heartstopper“ ist nicht nur absolutes Comfort-Fernsehen für die queere Community, der Hype geht weit darüber hinaus.

Zum ersten Mal gibt es eine Serie, in der wir – also die queere Community - genauso gezeigt werden, wie wir gesehen werden wollen. Wir sind keine Tokens mit denen man sich schmückt, wir sind mehr als ein supportive Side-Charakter. Unsere Queerness ist nicht das Alleinstellungsmerkmal, das uns besonders oder andersartig macht. Und sie sollte nicht das einzige sein, wodurch wir uns selbst und unsere Umwelt uns definiert und identifiziert. Heartstopper zeigt eine Gruppe an Jugendlichen, die all die üblichen Probleme durchmachen, mit denen man im Teenageralter konfrontiert ist: strenge Eltern, Mobbing, Leistungsdruck, Peer-Pressure, Schulwechsel, Zukunfts- und Verlustängste, Identitätsfindung, die erste große Liebe, der erste große Liebeskummer, Freundschaften schließen, die ein gefühltes Leben lang halten, sich zerstreiten und wieder zueinander finden.

Heartstopper Season 2

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Die Story selbst ist also so alt wie die Idee von „Highschool Teen Drama“ selbst. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Handlung dieser Serie, basierend auf den Comics von Alice Oseman, diesmal um eine Gruppe von Jugendlichen dreht, in der alle auf die ein oder andere Art queer sind – oder zumindest highly supportive Allies (die meiner Erfahrung nach nicht selten irgendwann doch noch rausfinden, dass sie auch nicht so straight sind, wie sie geglaubt haben). Kein Wunder also, dass diese Serie nicht nur Erfolg hat, sondern bereits seit der ersten Staffel als popkultureller Meilenstein für die Repräsentation und Darstellung von Queerness in Unterhaltungsmedien gilt.

Neben Lob und Kritik, Bewunderung und Faszination, melancholischen Glücksgefühlen und Rückbesinnung auf den eigenen ersten Heartbreaks macht sich aber noch ein anderes Gefühl breit, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Besonders bei den queeren Leuten, deren Highschool Zeit schon einige Jahre zurückliegt, stellt sich ein undefinierbares Gemisch aus Sehnsucht, Trauer, Verlust und Schmerz ein. TikTok und andere Plattformen sind voll von queeren Personen, die trauern. „Gay Grief“ ist ein Wort, das aufpoppt. Aber was genau wird betrauert? Und wieso stürzt diese Serie, die eigentlich zum Wohlfühlen gemacht wurde, aktuell so viele Menschen in eine kleine Existenzkrise?

Warum trauern wir bei einer Wohlfühlserie?

Es mag vielleicht im ersten Moment übertrieben klingen, aber für viele von uns ist es tatsächlich das erste Mal, dass wir ein Unterhaltungsformat sehen, in dem Queerness nicht in Form eines Token-Sidecharacters einfließt, wo Diskriminierung und Hass nicht im Vordergrund stehen, wenn es um die eigene Sexualität und Genderidentity geht, sondern ganz im Gegenteil, die positiven Momente überwiegen. Klar, queere Jugendliche haben in der Welt, in der wir leben, einige Probleme, die straight People vermutlich nicht kennen.

Heartstopper Season 2

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Coming-Out, Zwangsouting, mangelnde Aufklärung in Bezug auf queer Sex oder ein queerfeindliches Umfeld kommen einem in den Sinn. Aber unterm Strich, sind auch wir ganz normale Teenager und unseren Hormonen hilflos ausgeliefert. Wir verlieben uns genauso heftig, fühlen dieselben Emotionen, haben denselben Wunsch nach Bestätigung und Geborgenheit, wollen einfach so angenommen und geliebt werden wie wir sind. Eine erste große Liebe, eine erste richtige Liebesbeziehung haben. Das zumindest ist doch etwas, womit sich jeder Mensch, der mal ein Teenager, war identifizieren kann, oder?

Ich kann gar nicht all die Serien aufzählen, die ich in meiner Kindheit und Jugend gesehen habe und die alle ein und demselben Narrativ gefolgt sind: Die populäre Beauty-Queen der Schule muss beim nerdy Loser Mathenachhilfe nehmen und die beiden fangen eine heimliche Beziehung an, bis sie sich endlich traut, zu ihm zu stehen und sie ihre Liebe auf einem Tisch stehend, in der Cafeteria vor der gesamten Schule verkünden. Großer Applaus, Schmetterlinge, Tränen – kennt man.

Oder dass sich die sozial schwache Rebellin mit Piercings und gefärbten Haaren und der Rugby-Captain aus gutem Hause nachts heimlich im Park treffen, um Händchen zu halten, weil die Eltern ihre Liebe verbieten. Klar hat da auch mein queerer Bauch gekribbelt. Natürlich dachte ich mir in all diesen Momenten, bei jeder Serie von Gilmore Girls über O.C. California bis Skins: „Das will ich auch.“

Heartstopper Season 2

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Mir war damals, wie vermutlich vielen anderen queeren Leuten in meinem Alter, nicht bewusst, dass ich genau das will – aber eben anders. Denn dieses „anders“ war mir nicht vergönnt. Wenn ich eine erste große Liebe haben wollte, dann bitte aber schön heteronormativ, so wie wirs aus den ganzen Teenie-Serien kennen. Viele Formen von Queerness, die damals noch völlig fremd schienen oder vollkommen unsichtbar gemacht wurden, können wir heute benennen.

Diejenigen von uns, die das „Glück“ hatten, bereits vor zehn, fünfzehn Jahren das was sie fühlten, definieren zu können, waren vielleicht dort wo sie aufgewachsen sind die einzige queere Person: „I was praying for a Boyfriend. Or at least for one other person to come out, so I wouldn’t feel so alone“, sagt TikToker @bartholomew_reads.

„I was praying for a Boyfriend. Or at least for one other person to come out, so I wouldn’t feel so alone.“

Die großen ersten Male

Ich kenne keine einzige queere Person, die von sich sagt, dass ihre Schul- und Teenagerzeit leicht war. Wir alle hatten zusätzlich zu den ganzen klassischen Teenie-Struggles noch andere Ängste, Sorgen und Probleme. Die Jugend ist eine der prägendsten Zeiten, weil man so viele „Firsts“ erlebt. Aber eben nicht alle: „I am mourning for my younger self, because I had to make these experiences at 24. I felt so emotionally immature, because I didn’t get the chance to make them as a teen”, sagt @batholomew_reads.

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Der Grund dafür, warum es so verdammt schmerzhaft ist, und da stimme ich ihm in seiner Aussage 100% zu, ist, weil wir das Gefühl haben, dass uns diese Erfahrungen weggenommen wurden. Weil wir nirgendwo gesehen haben, dass das was wir fühlen normal ist, weil wir niemanden hatten, der das Gleiche durchmacht wie wir, niemandem zu dem wir aufschauen konnten, keinen fiktiven Charakter im Mainstream-TV, auf den wir zeigen konnten und sagen: „Ja genau, das ist es, so fühl ich mich!“ Das Absurde ist, wenn ich mir jetzt anschaue, wie viele von uns in ihren Zwanzigern ein Coming-Out hatten, da stellt sich mir zwangsläufig die Frage: Musste das wirklich alles sein? Und was wäre, wenn alles anders gewesen wäre?

„I am mourning for my younger self, because I had to make these experiences at 24. I felt so emotionally immature, because I didn’t get the chance to make them as a teen.”

Das Unbefriedigende ist, dass wir nie eine Antwort auf diese Frage bekommen werden. Unsere Teenager-Zeit ist vorbei und egal wie oft wir Heartstopper durchbingen, wir können sie nicht nochmal neu erleben. Dadurch wird das Loch in uns, von dem wir bisher nicht einmal wirklich wussten, dass es da ist, uns aber nur noch bewusster. Also müssen wir uns dieses Loch genauer anschauen, um zu verstehen, warum wir um etwas trauern, das nie da war.

Heartstopper Season 2

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Natürlich war ich in meinen Teenie-Jahren jedes einzelne Mal völlig außer mir – ohne dass ich genau wusste warum – wenn ein queerer Charakter in meinen Lieblingsserien am Rande auftauchte. Meist als stereotype, Trope-artige Figur, die entweder für mehr Drama sorgen sollte, ein witziger Sidekick des Maincharkters war oder uns zeigte, wie hart das Leben als geoutete Person ist – im Umkehrschluss könnte man sagen, uns wurde gezeigt, dass wir unsere Queerness lieber unterdrücken sollen, damit wir kein Scheiß-Leben haben.

Und falls wir das nicht schaffen, gibt es klare Vorstellungen davon, wie wir als queere Menschen ins Bild passen. Super-stereotyp und leicht identifiziertbar oder super angepasst, eher feminin oder maskulin, kein dazwischen, nichts außerhalb eines binären Rahmens – entscheide dich, willst du queer sein oder nicht? Ja? Dann halte dich an unsere Regeln, du lebst immer noch in einer Gesellschaft, in der du das Gegenteil der Norm bist. Willst du nicht der Norm entsprechen, wird dein Leben unnötig hart, also überlege es dir gut.

Warum das „einfach glücklich sein, weil es heute besser ist als damals“ nicht funktioniert

Out and Proud leben ist hart, ohne Zweifel. Wir leben nach wie vor in einer Welt, wo die queere Community mehr als nur benachteiligt und in vielen Teilen der Welt nicht sicher ist, tagtäglich Diskriminierung erlebt, wo uns Zugang zu lebenswichtiger medizinischer Versorgung und Behördengängen unnötig erschwert werden, wo wir immer noch um unsere Rechte fürchten und kämpfen müssen.

Also sollten wir doch einfach glücklich darüber sein, dass wir – immerhin – ein bisschen Repräsentation oder Screen-Time bekommen und die Gesellschaft mittlerweile zumindest manche von uns als „ganz normal“ akzeptiert, oder? Klar, kann man auch so sehen. Nachdem viele von uns in ihrer Kindheit und Jugend mit - wenn man es spitz formulieren will - heteronormativer Propaganda von allen Seiten so sehr zugemüllt wurden, dass wir in vielen Fällen erst im Erwachsenenalter draufgekommen sind, warum wir uns unser Leben lang Fehl am Platz und als Außenseiter gefühlt haben, da sind wir doch froh, dass es nun endlich Serien wie Sex Education, Heartbreak High oder Heartstopper gibt.

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Aber so einfach ist das nunmal nicht. Uns ist vermutlich allen bewusst, dass Heartstopper ein sehr idealistisches Bild zeichnet. Ich mein, sogar die handelnden Lehrpersonen in Heartstopper sind alle(!) queer. Einige von uns sind jetzt selbst Lehrpersonen oder in anderen Vorbildfunktionen. Es macht uns so glücklich zu sehen, dass eine vollkommen „normale“ Teenager- und Highschoolzeit auch für queere Personen möglich sein kann. Zumindest in der Theorie, also in der Serie. Vorstellungen schaffen aber Tatsachen, Vorbilder – egal ob fiktiv oder real – geben Perspektive und Orientierung. Etwas zu normalisieren damit es normal wird, oder wie auch immer das irgendwelche klugen Soziolog:innen akademisch abgehandelt haben.

Wir sind traurig, weil wir sehen, wie es sein hätte können. Wir beneiden fiktive Charaktere um ihre Fähigkeit, bereits mit 16 Jahren klar und offen zu kommunizieren und Probleme gemeinsam zu bewältigen, anstatt sie in sich reinzufressen (und ich bin mir sicher, darum beneiden sie nicht nur queere Personen). Wir vermissen einen queeren Freundeskreis, den wir nie hatten. Menschen aus unserer Schulzeit, zu denen wir nie wirklich eine tiefe Verbindung aufbauen konnten, sind nach all den Jahren immer noch befreundet. Vielleicht realisieren wir jetzt erst, wieso uns das manchmal traurig macht.

Es liegt nicht an den Menschen, sondern daran, dass wir auch gerne einen Freundeskreis gehabt hätten, der uns seit der Schulzeit hält, den Rücken stärkt und mit dem man diese Erfahrungen gemeinsam durchgemacht hat. Viele von uns haben ihre engsten Freunde, die großteils – natürlich – ebenfalls queer sind, erst in den Zwanzigern oder sogar noch später kennengelernt. Viele habe mit Mitte Zwanzig zum ersten Mal queer gedated und erst dann spüren dürfen, was es bedeutet, richtig verliebt zu sein.

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Too little, too late?

Viele von uns sind erst Jahre nach ihrem „Erwachsenwerden“ draufgekommen, wer sie wirklich sind. Oder haben den Mut gefunden, zu sich zu stehen. Manche haben ihre ganze Jugend über eine Rolle gespielt, um zu überleben. Wir sind gerade in einem gemeinschaftlichen Realisationsprozess in dem wir erkennen, dass es anders sein hätte können. Uns wurde diese Erfahrung genommen, von der Gesellschaft, die Menschen wie uns keinen Platz eingeräumt oder unsere Existenz ignoriert hat und es ist okay, wenn wir darüber traurig, wütend oder von Eifersucht zerfressen sind.

Wir sind uns gleichzeitig bewusst, dass wir die Menschen, die jetzt queere Teenies sind, nicht beneiden müssen, weil sie vermutlich genauso eine harte Zeit durchmachen wie alle anderen. Und für jede einzelne Person, deren Erfahrung auch nur in die Nähe jener von Nick, Charlie und ihrer Peer-Group kommt, lachen wir Freudentränen.

Wir wünschen uns so sehr, dass das was wir auf unseren Bildschirmen sehen, von dem wir wissen, dass es geskripted und gespielt ist, Realität für queere Jugendliche werden kann. Diese Glücksgefühle, die „Heartstopper“ auslöst, gehen aber Hand in Hand mit der Melancholie, aufgrund der Gewissheit, dass wir so etwas niemals haben werden können, selbst wenn die Welt sich ändert. Es ist zu spät für uns, diese Erfahrungen zu machen, weil wir sie bereits anders oder viel später gemacht haben.

All diese Gefühle, die wir deshalb jetzt fühlen, müssen wir verarbeiten, einordnen, drüber wegkommen und weitermachen. Ich weiß, alles was ich bis jetzt geschrieben habe klingt für viele wahrscheinlich extrem abgedroschen und ab hier wird es nur noch kitschiger. Aber sind wir uns mal ehrlich, wenn du „Heartstopper“ gesehen und bis hierher gelesen hast, hält sich deine Apathie zum Kitsch ziemlich sicher in Grenzen.

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Trost und comfort finden wir - na eh kloa - dann doch in unserer Lieblingsserie, weil es auch darin Figuren gibt, denen es geht wie uns: „When you don’t figure out you’re gay until your late twenties, you tend to miss out on those beautiful gay teenage experiences“, sagt Mr. Farouk, einer der Lehrer in Heartstopper, Staffel 2, Folge 6. Die Antwort von Mr. Ajayi richtet sich nicht nur an Mr. Farouk, sondern an uns alle: „I don’t think there’s an age limit to those.“

„When you don’t figure out you’re gay until your late twenties, you tend to miss out on those beautiful gay teenage experiences“ - „I don’t think there’s an age limit to those.“

Trauer hat ja bekanntlich fünf Phasen: Verdrängung, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Wir haben uns in die queere Utopie geflüchtet, die „Heartstopper“ ist, um unsere eigene, unschöne Realität zu vergessen. Wir waren wütend und haben versucht zu erklären, warum. Wir haben über das Recht auf unsere Trauer verhandelt (oder zumindest habe ich es hier und einige Menschen drüben auf TikTok versucht). Wir sind in eine kollektive, queere Existenzkrise gefallen. Bleibt also nur noch die letzte Phase übrig.

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