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Screenshot zu "Cyberpunk 2077: Phantom Liberty"

CD Projekt Red

Hype-Analyse

Die Marketingmaschine von „Cyberpunk 2077“ läuft wieder

Das Computerspiel „Cyberpunk 2077“ ist nun in jenem Zustand, der vor fast drei Jahren versprochen wurde. Vor kurzem gab es das große 2.0-Update, und zusätzlich ist eine Erweiterung erschienen: „Phantom Liberty“. Hersteller CD Projekt webt daraus eine „Vom Absturz zur Erlösung“-Geschichte. Eine ARD-Doku löst das Marketing-Narrativ kaum auf und zeigt nur oberflächlich Hintergründe zur Entwicklung des Spiels.

Von Robert Glashüttner

Knapp drei Jahre ist es her, dass das von vielen Fans heiß erwartete, dystopische Science-Fiction-Rollenspiel „Cyberpunk 2077“ erschienen ist. Die meisten werden sich erinnern, wir haben den Trubel hier auf FM4 mitverfolgt und analysiert.

„Cyberpunk 2077“ hat bereits im Vorfeld jahrelang viel versprochen: eine freie Welt mit jeder Menge Körperimplantaten, eine große, düstere, in Neonfarben getränkte Großstadt, viele Waffen, schnelle Autos. Die Marketingmaschine ist bald schon auf Hochtouren gelaufen. Doch dann wurde die Veröffentlichung des Spiels mehrmals verschoben und es ist im Dezember 2020 erst recht in einem technisch teils katastrophalen Zustand auf den Markt gekommen.

Promobild zum Computerspiel "Cyberpunk 2077"

CD Projekt Red

Jetzt, knapp drei Jahre später, ist das Spiel nun so, wie es ursprünglich versprochen wurde. Anlässlich der heute (Dienstag, 26. September 2023) veröffentlichten, großen Erweiterung „Phantom Liberty“ gibt es nicht nur einen großen 2.0-Patch für das Grundspiel. Die ARD veröffentlichte außerdem schon vor ein paar Tagen eine aufwendig produzierte, 75 Minuten lange TV-Doku.

Es wurde im Vorfeld gemunkelt, dass das Doku-Produktionsteam ohne jegliche Einschränkungen arbeiten und recherchieren habe dürfen. Herausgekommen ist dennoch ein Film, der viel über drei (männliche) Spieleentwickler und eine „Vom Absturz zur Erlösung“-Geschichte erzählt. Hinter die Kulissen der Spielentwicklung und das Narrativ der Marketingmasche von CD Projekt wird leider nur oberflächlich geblickt.

Die polnischen „Indies“ seien nur am Spiel interessiert

CD Projekt, das polnische Entwicklerstudio hinter „Cyberpunk 2077“ ist ein großer Fisch: Die knapp 30 Jahre alte Aktiengesellschaft hat weit über 1.000 Mitarbeiter:innen und generierte 2021 einen Umsatz von 192 Millionen Euro. Durch die „Witcher“-Serie ist das Unternehmen in den 2010er Jahren groß geworden und durch seine schiere Größe ist es heute alles andere als was man landläufig als indie, also frei und unabhängig, bezeichnen würde.

Dennoch inszeniert sich CD Projekt seit Jahren erfolgreich als freigeistige Truppe, die Games nicht aus Geldgründen entwickeln würde, sondern aus Liebe zum Medium, und weil man der Welt großartige Computerspiele bieten möchte. Es ist eine merkwürdige Business-punk-Erzählung: eine börsennotierte Firma, die angeblich alleine den Spieler:innen verpflichtet sei. Dass das eine Mär ist, tut der Effektivität dieser Narration keinen Abbruch. Ebenso wenig der Umstand, dass mit einem sehr großen Budget für Marketing und Merchandising der Hype um „Cyberpunk 2077“ Jahre vor der Spielveröffentlichung nicht einfach so durch Zufall entstanden ist und die Leute nicht bloß dank ein paar guter Trailer „Bock darauf hatten“, wie es ein Branchenbeobachter in der Doku kommentiert.

Dass das Game noch 2020 auf den Markt gedrängt wurde, war - natürlich - den Shareholdern geschuldet, die Druck auf CD Projekt machten. Danach kam der große Shitstorm, die überbordende Enttäuschung vieler Fans und das große Schuldeingeständnis der Entwicklungsfirma. Verkauft hat sich das Spiel freilich dennoch blendend (bis heute rund 20 Millionen Mal), und darum ging es ja letztendlich. Es wurden Nachbesserungen versprochen, die in den letzten Monaten und Jahren auch geliefert wurden. Das ist jedoch vor allem im Sinne des Unternehmens, denn immerhin hatte man alle Karten auf das „Cyberpunk“-Pferd gesetzt. CD Projekt wäre wohl untergegangen oder verzwergt, hätten sie das unfertig veröffentlichte Produkt nicht doch noch spät fertiggestellt.

Schlaue Nutzung der vormaligen Krisenzeit

Aus diesen eher nüchternen Fakten haben die schlauen Marketingköpfe, die bei und für CD Projekt arbeiten, nun ihr nächstes emotionales Stück gezaubert. Die katastrophale Erstveröffentlichung wird nun reumütig als großer Fehler eingestanden, gleichzeitig inszeniert man einen Kampf, ein Hochrappeln der unnachgiebigen Spieleentwickler:innen, die alles daran setzen, ihren ehemals guten Ruf zurückzugewinnen.

Die TV-Doku ist weitgehend Komplizin dieser Erzählung und stellt ihr Narrativ nur an manchen Momenten ihrer 75 Minuten langen Laufzeit in Frage. „Inside the Game - Cyberpunk 2077: Phantom Liberty“ präsentiert vor allem vier Entwickler von CD Projekt Red: Quest-Director Pawel Sasko, Studioleiter Adam Badowski, Level-Designer Miles Tost und Lore-Designer Patrick Mills. Viel Zeit der Doku wird dafür verwendet, Teile ihrer Lebensgeschichten zu erzählen und persönliche Orte zu zeigen. Badowski etwa sieht man minutenlang durch ein Kulturzentrum in Łódź schlendern, und wir erfahren en detail, wie Sasko ohne Popkultur in einem kleinen polnischen Dorf aufgewachsen ist.

Diese ausführlichen Passagen über die kulturellen und persönlichen Hintergründe der ausgewählten Entwickler sind zwar handwerklich gelungen und machen die Protagonisten greifbarer, Hintergründe der Spielentwicklung und Einblicke in die Games-Industrie gewähren sie nicht. Die Doku kommt lange nicht in die Gänge, erst im letzten Drittel werden wichtige Themen wie die technische und wirtschaftliche Fragilität von Computerspielentwicklung, Crunch (das Normalisieren vieler Überstunden in der Belegschaft) und der oft abrupte Stellenabbau besprochen.

In der gesamten Doku kommen darüber hinaus nur zwei Interviewpartnerinnen vor: Streamerin Farbenfuchs und Journalistin Lisa Ludwig. Dass aus dem Team von „Cyberpunk 2077“ keine Frauen zu Wort kommen, ist vor allem insofern sonderbar, weil die Doku von zwei Frauen - Mariska Lief und Agata Pietrzik - gestaltet worden ist. Entwicklerinnen sieht man zwar, aber sie sprechen nie in die Kamera. Schwer zu glauben, dass bei einer Belegschaft von über 1.000 Mitarbeiter:innen nur Männer das Wort ergreifen wollten.

Back on track

Es stimmt schon, dass für CD Projekt eine Weile viel auf dem Spiel gestanden ist und die Firma schwierige Wochen und Monate durchleben musste. Ob aber tatsächlich jemals der Punkt erreicht war, wo das Unternehmen merklich in Gefahr war, sei dahingestellt. Shitstorms inklusive Morddrohungen sind selbstverständlich kein Spaß, doch wurden sie von den Bossen - zu Ungunsten ihrer Mitarbeiter:innen - wohl in Kauf genommen. Ein endloser Hype, der auf eine komplett versemmelte Veröffentlichung kracht, konnte nur ein riesiger Griff ins Klo werden. Andererseits ist er maximal mitreißend und bietet die perfekte Vorlage für eine Phönix-aus-der-Asche-Erzählung.

Screenshot zu "Cyberpunk 2077: Phantom Liberty"

CD Projekt Red

Schon zu Beginn der ARD-Doku und auch der meisten anderen Berichte weiß man: Das Publikum hat CD Projekt längst verziehen. Irgendwie und insgeheim hatte der ganze „Skandal“ für viele wohl auch guten Unterhaltungswert.

Alles gut: Jetzt ist „Cyberpunk 2077“ technisch stabiler und spielerisch besser als eh und je. Das passt perfekt in die Gameskultur der Gegenwart, die gute Remakes, Remasters und Erneuerungen von bereits Existentem oft mehr schätzt als wirklich neue Ideen und Projekte. Die Marke „Cyberpunk“ hat sich damit stabilisiert und einzementiert. Aus dem Hype, dem Sturz, dem Hochrappeln und einem solide guten Game ist eine neue Riesenbrand geschlüpft, die bleiben wird.

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