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Sandra im Gerichtssaal

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FILM

„Anatomie eines Falls“: Die unmögliche Suche nach der Wahrheit

Mit ihrem Gerichtssaaldrama sorgt Regisseurin Justine Triet bei Festivals für Aufsehen. Hauptdarstellerin Sandra Hüller erklärt im FM4 Interview die Besonderheiten des faszinierenden Films.

Von Christian Fuchs

Der Mann in diesem Film ist immer abwesend. Am Anfang nehmen wir die Präsenz von Samuel (Samuel Theis) nur durch laute Musik wahr, die durch ein einsam gelegenes Chalet schallt. Eigentlich muss seine Frau, die erfolgreiche Autorin Sandra (Sandra Hüller), gerade einer angereisten Journalistin ein Interview geben. Aber der ignorante Gatte stört mit Reggae-Tunes das Gespräch.

Bald nach diesem Vorfall wird der sehbehinderte Sohn (Milo Machando Graner) des Paars den Leichnam des Vaters im Schnee finden. Weil die Umstände rund um seinen Fenstersturz mysteriös scheinen, landet die Causa vor Gericht. Und dort verharrt „Anatomie eines Falls“ dann auch einen guten Teil seiner zweieinhalb Stunden Laufzeit. Vom abwesenden Samuel erzählen Protokolle, Tonbandmitschnitte und kurze Flashbacks.

Eine Leiche im Schnee

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Unbescholtene Frau unter Verdacht

Weil der Titel des hypnotisch inszenierten Films mehrdeutig zu verstehen ist, verfolgen wir nicht nur minutiös die Ermittlungen rund um den Fall, sondern vor allem auch den emotionalen Sturz einer Familie ins klaffende Nichts. Das klingt jetzt allerdings unangemessen pathetisch, passt nicht zum realistischen Tonfall von Justine Triets Werk. Der Gewinnerfilm der Goldenen Palme von Cannes spielt mit den Erwartungen an einen Gerichtssaalstreifen. Letztlich entpuppt er sich aber als schmerzhaftes Beziehungsdrama.

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FM4 Film Podcast: Anatomie eines Falls & The Killer

Zwei neue und höchst sehenswerte Filme besprechen Pia Reiser und Christian Fuchs in dieser Episode. Dabei könnten die Werke von Justine Triet und David Fincher nicht unterschiedlicher sein. Das preisgekrönte Gerichtssaal-Drama „Anatomie eines Falls“ erzählt von einer Schriftstellerin unter Mordverdacht, mit einer brillanten Sandra Hüller. „The Killer“ zeigt Michael Fassbender als Auftragskiller, dessen streng strukturiertes Leben nach einem missglückten Auftrag außer Kontrolle gerät.

Das ganze Casting ist top, aber Sandra Hüller spielt unglaublich gut eine bodenständige, völlig unbescholtene Frau, die unter Verdacht gerät. Die deutsche Schauspielerin, spätestens seit „Toni Erdmann“ rundum zurecht gefeiert, muss zu Beginn unseres Interviews schmunzeln.

Wir erinnern uns beide an einen besonders schönen FM4 Film Podcast, aus Anlass von „Sisi & Ich“, zusammen mit Regisseurin Frauke Finsterwalder und Kollegin Pia Reiser. Damals pendelten die Gespräche zwischen Humor und härteren Themen, nahtlos, spannend. Es ist immer eine Freude mit Sandra Hüller zu sprechen.

Liebe Sandra Hüller, wenn unsere FM4 Hörer:innen jetzt den Film nicht kennen, wie würdest du die Ausgangslage beschreiben? Und vielleicht vage auch deine Figur?

Sandra Hüller: Ich bin neulich jemandem begegnet in einem Publikumsgespräch, der mich gefragt hat, ob es ein Film über eine Frau ist, die angeklagt wird, ihren Mann umgebracht zu haben. Oder ob es ein Film über einen Jungen ist, dessen Mutter angeklagt wird, seinen Vater umgebracht zu haben. Ich glaube, das Zweite stimmt. Ich glaube, es ist ein Film über einen Jungen, dessen Mutter angeklagt wird, seinen Vater umgebracht zu haben. Das heißt, wir sehen eigentlich einer Familie dabei zu, wie sie versucht, die Wahrheit herauszufinden. Gleichzeitig sehen wir, wie im Gerichtssaal versucht wird, diese Wahrheit herauszufinden.

Der Film hat sehr viele Ebenen…

Sandra Hüller: Wir lernen ganz viel über Familienkonstellationen, über bestimmte Annahmen, bestimmte Leute, bestimmte Rollenverteilungen und so weiter. Mit all diesen gesellschaftlichen Themen spielt der Film aber im Gewand eines Gerichtsdramas.

Swann Arlaud und Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

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Ich habe mir nach dem Anschauen überlegt, welche vergleichbaren Filme es geben könnte. Ich bin am ehesten noch beim koreanischen Kino hängengeblieben. Bei langsamen Thrillern wie „Die Frau im Nebel“ unlängst. Aber „Anatomie eines Falls“ hat ja eine ganz eigene Tonlage. Klassische Gerichtssaaldramen flackern nur kurz auf. War dir beim Lesen des Drehbuchs dieser originelle Zugang von Anfang an bewusst, oder hat sich das beim Dreh dann noch mehr herauskristallisiert?

Sandra Hüller: Das Drehbuch war schon offensichtlich sehr besonders, weil es bestimmte Klischees vermeidet oder nur anklingen lässt. Diese Irritation darüber, wie bestimmte Dinge normalerweise gezeigt werden im Film, die hier verweigert werden, fand ich schon als Leserin faszinierend. Diese Unruhe und Verunsicherung, die dadurch entsteht. Ich dachte mir, da hat jemand seine Arbeit ganz genau gemacht und hat auch wirklich viele Gerichtsfilme geschaut und kennt sich wirklich aus, auch im französischen Justizsystem, und ist bewandert in gesellschaftlichen Diskursen, über die Rolle der Frau in diesem System.

Nähe und Distanz durch Sprache

Gab es auch eine spezielle Arbeitsweise mit Regisseurin Justine Triet?

Sandra Hüller: Die Arbeiten sind frei von Hierarchie, sehr auf Augenhöhe. Niemand beim Dreh besteht auf seiner Machtposition, was ja normalerweise bei Filmarbeiten nicht ungewöhnlich ist. Justine lässt dagegen viele Freiheiten, tatsächlich jede Stimme am Set wird irgendwie miteinbezogen.

Justine hat auch, glaube ich, ein ziemlich großes Wahrnehmungsvermögen, was Stimmungen von Leuten angeht. Sie merkt immer ganz genau, ob das, was gemacht wird, eine Reaktion auslöst, ohne manipulativ zu sein. Es wirkt sehr zugewandt, sehr respektvoll, wie sie das macht. Und es geht sehr lustig zu. Es ist eine gute Zeit mit ihr.

Deine Figur, die auch Sandra heißt, wechselt zwischen Französisch und Englisch, mit deutschem Akzent. Wie wichtig war dieser sprachliche Aspekt und wie schwierig war der auch?

Sandra Hüller: Die Sprache spielt eine ganz wichtige Rolle in dem Film. Dadurch, dass Justine Triet und Arthur Harari, die das Drehbuch geschrieben haben, entschieden haben, dass eine deutsche Schauspielerin eine deutsche Schriftstellerin spielt, die in England gelebt hat und dann in Frankreich landet, mit ihrem französischen Ehemann, müssen wir mit diesem Fakt quasi umgehen.

Das Tolle ist ja, dass dadurch mehr Fragen entstehen, auch vor Gericht. Wem glaubt man? Glauben wir Leuten, die wir erst mal verstehen oder die unsere Sprache sprechen? Oder ist das eher hinderlich? Oder was braucht man überhaupt, um jemandem zu glauben? Es erzählt viel über Nähe und Distanz, die durch Sprache entsteht.

Milo Machando Graner in "Anatomie eines Falls"

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Deine Figur ist sehr weit weg von den üblichen Femme-fatale-Klischees, die auch in den erwähnten koreanischen Filmen noch um undurchschaubare Ehefrauen herumkreisen.

Sandra Hüller: Ja, das sind so Sachen, die weder Justine Triet noch mich interessieren, weil die Femme fatale ist, glaube ich, tatsächlich eine Männerfantasie. Ich glaube, so was gibt es nicht. Oder wenn, dann gibt es das, weil Frauen denken, das gefällt irgendjemanden.

Sie wirkt sehr bodenständig und vernünftig, was die Sache ja noch komplizierter macht...

Sandra Hüller: Das ist das Interessante. Uneindeutigkeiten sollten zumindest im Spiel nicht vorhanden sein. Was sie sagt, ist immer ehrlich, bis auf eine Stelle, die sie dann aber auch ganz ehrlich zugibt. Und ja, die Figur ist für mich sehr geradlinig und trotzdem wird sie sehr häufig mir gegenüber als undurchsichtig beschrieben, opaque im Französischen. Das finde ich total interessant, weil sie nichts dazu tut, so zu sein. Sie selber ist immer offen und ehrlich und trägt die Verantwortung für all ihre Handlungen.

Die Realität im Gerichtssaal

Ist es sehr wichtig, dass sich Zuseherinnen mit deinen Figuren identifizieren? Gibt es auch Filme, wo dieses Angebot zur Identifikation keine Rolle spielt? Kann man den Film auch quasi ganz abstrakt sehen?

Sandra Hüller: Ich glaube, man kann den Film auch als theoretisches Konstrukt betrachten. Das kann man machen. Was mir aber oft erzählt wird, ist, dass die Leute sich tatsächlich sehr anbinden an die Figur, Frauen mehr als Männer, dass es auch tatsächlich interessante Diskussionen innerhalb von Beziehungen gibt, wenn der Film gemeinsam geschaut wird.
Das war schon so ein bisschen ein Wunsch, dass Zuschauende vielleicht Lust haben zu überprüfen, mit welchen Narrativen sie denn so unterwegs sind. Ohne da therapeutisch unterwegs zu sein, das steht uns gar nicht zu.

Aber natürlich versuche ich als Spielerin Figuren so zu erzählen, dass sie nachvollziehbar sind in irgendeiner Art und Weise. Ich merke aber, je älter ich werde, desto freier werde ich auch. Und es gibt auch Ausnahmen. Mit „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer (wo Sandra Hüller die Frau eines KZ-Kommandanten spielt, Anm.) habe ich etwa eine ganz andere Erfahrung gemacht, wo es überhaupt keine Verbindung zur Figur gegeben hat. Es funktioniert irgendwie trotzdem, was mich sehr überrascht.

Sandra im Gerichtssaal

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Magst du auch selber dieses Genre des Gerichtssaalsdramas eigentlich?

Sandra Hüller: Ich muss sagen, dass mich das nicht besonders bewegt. Ich finde diesen Ort des Gerichts aber natürlich total interessant, weil da im Brennglas alle gesellschaftlichen Fragen verhandelt werden, alle Klischees, alle Narrative mit auf den Tisch kommen. Das ist spannend.

Es wird vor Gericht eine Realität geschaffen, die vielleicht gar keine Realität ist, sondern nur eine Konstruktion…

Sandra Hüller: Genau. Dass ist eben die Frage, die der Film auch aufwirft, ob ein Gerichtssaal der Ort ist, an dem die Wahrheit zu finden ist. Oder ob wir nicht dort auch mit Geschichtenerzählen hantieren, mit Storys sozusagen, die ganze Zeit. Und ob das sein muss, dass sozusagen traumatisierende Elemente ein Teil davon sein müssen. Es ist ja auch eine Art Publikum anwesend, für mich ist das fragwürdig, ob das überhaupt sein muss.

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