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HALLO FM4

Watching with tears in my eyes: Ein Plädoyer für das Heulen im Kino

“HALLO FM4” widmet sich heute der Träne in der Popkultur. Dazu subjektiv ein paar Tipps von einem Filmkritiker, der nahe am Wasser gebaut ist.

Von Christian Fuchs

Es gibt Menschen, die sehen Kino als überwiegend intellektuelle Angelegenheit, aber darüber lässt sich streiten. Zum Beispiel mit Kollegin Pia Reiser und mir. Im FM4 Film Podcast gehört es mittlerweile zur Tradition, dass wir über unseren reichhaltigen Taschentücher-Einsatz im Kino plaudern.

Eine besonders heftige Erinnerung diesbezüglich: Der letzte James-Bond-Blockbuster „No Time to Die“. Das ausgesprochen dramatische Ende, die Zuneigung zu den Figuren von Daniel Craig und Leá Seydoux, die wunderschöne Einspielung eines alten Titelsong-Klassikers, all das provoziert bei mir einen Tränensturm, der mich verkrampft in den Kinosessel drückt. Nach der Pressevorführung schreibt mir Pia, die im IMAX-Saal an ganz anderer Stelle gesessen ist, eine SMS. Sie hatte eine richtige Heul-Attacke, ich bin beruhigt.

Das intensivste Erlebnis dieser Art meinerseits spielte sich auch unter eine Runde von Journalist:innen ab, wir sprechen vom Jahr 1996. Damals wird Lars von Triers eigenwilliges Melodram „Breaking the Waves“ vorab der Presse gezeigt. Am frühen Morgen, wie es in der Branche üblich ist.

Breaking the Waves

Zentropa

Der Film arbeitet bewusst mit allen erdenklichen Mitteln daran, das Publikum in eine Art Trauer-Trance zu versetzen. Die unfassbar tragische Geschichte einer naiven jungen Frau (Emily Watson), die aus Liebe zu ihrem verunglückten Ehemann alles riskiert, kann man aus heutiger Sicht leicht kritisieren. Tatsächlich wirkt es schon fast sadistisch, wie der Regie-Diktator das weibliche Opfer in den Untergang schickt.

Damals, im Wiener Apollo-Kino, hebelt „Breaking the Waves” das gesamte Auditorium aus abgebrühten Filmkritiker:innen aus. Ein lautes gemeinsames Schluchzen erfasst beim Showdown den Raum, wie verweinte Zombies wanken wir alle ins Tageslicht. Viele Stunden lang kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Ein traumatischer Moment? Keineswegs, ich bin sehr dankbar für diesen Vormittag, der sich eingebrannt hat. Näher bin ich selten an die berühmten Thesen von Aristoteles herangekommen.

Der griechische Philosoph beschäftigte sich intensiv mit der reinigenden Wirkung von „Jammern und Schaudern“ im antiken Theater. Seine vielzitierte Katharsis-Theorie besagt vereinfacht, dass wir uns selbst danach besser fühlen, wenn wir stellvertretend für fiktive Charaktere leiden und weinen. Das ist salziges Wasser auf den Mühlen der FM4 Filmredaktion. Auch aus vielen filmwissenschaftlichen Studien weiß man: Die besten Filme wollen nicht nur das Hirn stimulieren, sie zielen auf den ganzen Körper ab, rufen Angst, Erregung, Rührung hervor.

Kurz gesagt: Dem realen Schrecken in der Welt draußen für einen beschränkten Zeitraum zu entkommen, in einen fiktiven Raum, um dort ungehemmt loszuheulen, das kann glücklich machen. Weil Film eben nicht echt ist, weil wir spielerisch lernen, mit extremen Emotionen umzugehen.

Titanic

Paramount

Kollektives Katharsis-Erlebnis

Den Regisseur:innen solcher Brachial-Dramen wird oft vorgeworfen, dass sie berechnend unsere Gefühle manipulieren. Aber ist das was Schlechtes? Nicht selten, wenn die Lichter im Saal ausgehen, erträume ich mir vom bevorstehenden Film in die Mangel genommen zu werden. Bitteschön, rufe ich den Macher:innen in meinem Kopf zu, ich bin eure willige Marionette. Zieht an meinen Gefühlsfäden, setzt mich dem Unerhörten aus, die Taschentücher liegen eh bereit.

So viele popkulturelle Spielarten setzen ohnehin schon auf stilisierte Belanglosigkeit, auf gepflegte Fadesse und Wohlfühl-Taktiken. Im Gegenzug zählt Kunst, die wirklich unter die Haut geht, für mich zur Königsklasse. In diesem Sinne ist James Cameron natürlich ein großer Künstler. Mit „Titanic“ hat er 1997 mehreren Generation ein kollektives Katharsis-Erlebnis Deluxe verschafft. “I’ll never let go, Jack. I’ll never let go“, sagt Kate Winslet und mir kriecht die Gänsehaut den Nacken hinauf. "Promise me you’ll survive”, schreit Leonardo DiCaprio, “that you won’t give up, no matter what happens“.

Gegen “Dancer in the Dark” wirkt „Titanic“ fast harmlos punkto Tränenfluß. Avantgarde-Pop-Ikone Björk als verarmte Fabriksarbeiterin, die vom Schicksal (beziehungsweise von Lars Von Triers Drehbuch) in die Hölle gezogen wird, bis zum bittersten Ende der jüngeren Filmgeschichte, das schreit fast nach Triggerwarnung heute. Der dänische Regisseur Lars von Trier hat bereits knapp davor, wie erwähnt, mit „Breaking the Waves“, den möglicherweise traurigsten Film aller Zeiten gedreht.

Dancer in the Dark

Zentropa

Die Unmöglichkeit bedingungsloser Zuneigung

Tränenkino hat nicht nur mit einer legitimen Flucht vor der harschen sozialen Realität zu tun, es geht ganz oft auch um die wahnwitzige Liebe, abseits aufgeklärter Beziehungs-Modelle. Das Schicksal von Lady Gaga und Bradley Cooper in „A Star is Born“ rührt auch Musical-Gegner. Die queere Urlaubsromanze „Call Me By Your Name” zeigt uns, wie fatal ein nicht gelebtes Leben sein kann. „La vie d’Adèle“, besser bekannt als „Blau ist eine warme Farbe“, rollt den Beginn und das Finale einer Leidenschafts-Affaire zwischen zwei jungen Frauen auf bittersüße Weise auf.

Wir ahnen durch diese Filme, dass die tragische Bedrohung die Gefühle noch stärker köcheln lässt. „Keine Liebe ohne Gefahr“ haben einst die Einstürzenden Neubauten gesungen. Das Sehnsuchts-Epos „The Light Between The Oceans“ macht uns die Unmöglichkeit von bedingungsloser Zuneigung klar. Ein Schmachtfetzen im besten Sinn, zumindest für die Hauptdarsteller:innen Alicia Vikander und Michael Fassbender geriet die Story zum Happy End. Die lernten sich beim Dreh näher kennen und wurden ein Paar.

Gänzlich hoffnungslos scheint Kenneth Lonergans einstiger Viennale-Hit „Manchester by the Sea“ auf den ersten Blick zu sein. Die Tragödie im Zentrum des Films, bloß subtil angedeutet, nimmt nicht nur den Charakteren die Worte. Ist das ein grausames Werk, weil hier drei Kinder durch einen Moment der Unaufmerksamkeit im Elternhaus verbrennen? Nein, wir haben es mit einem sensiblen Arthouse-Streifen zu tun, der den verlorenen Eltern-Seelen eine Stimme gibt.

Manchester by the Sea

TBC

Auch im Actiongenre kann geschluchzt werden

Manchmal versteckt sich das Melodram in der Umhüllung durch ein anderes Genre. Eine solche Mogelpackung im guten Sinn ist etwa Dennis Villeneuves Science-Fiction-Spektakel „Arrival“. Nach außen geht es darin um eine Alien-Invasion voller atemberaubender Schauwerte. In Wirklichkeit reißt uns die intime Mutter-Tochter-Geschichte das Herz heraus. Für heroische Augenblicke, in denen Filmfiguren ganz schwierige Entscheidungen treffen, bin ich besonders empfänglich, gestehe ich. Was mich wieder zum Anfang zurückbringt: Wer den letzten James Bond Film gesehen hat, weiß: Auch und besonders im Actiongenre kann geschluchzt werden.

Szenenbild "No Time To Die"

Universal Pictures

Animationsfilme wären einen eigenen Artikel wert, inklusive der Diskussion, wieviel Herzschmerz Kinder eigentlich vertragen. Die aufwühlendste Szene in einem Cartoon-Epos, abseits von „Bambi“? Vielleicht der Prolog des Pixar-Streifens „Up“, der Leben, Liebe und Tod in ein paar Minuten verpackt, den weiteren Film sah ich nur durch einen Schleier von Tränen.

Wer jetzt die besonders naheliegenden RomComs vermisst: Die machen es sich oft viel zu leicht mit ihrer verlogenen Soap-Opera-Form der Romantik. Ausnahme: Die Produktionen von Comedyguru Judd Apatow in den Nullerjahren, wo Lachen und Weinen nahtlos ineinander übergehen. Würde Aristoteles ein lustig-trauriges Meisterwerk wie „Bridesmaids“ mögen? Ich hoffe doch.

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