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Darja Serenko

Radio FM4 | Christian Pausch

„Der Krieg beginnt zuhause“

Die russische Aktivistin und Schriftstellerin Darja Serenko war in Wien und hat ihr kürzlich auf Deutsch erschienenes Buch „Mädchen & Institutionen“ vorgestellt.

Von Christian Pausch

Auf dem Cover von Darja Serenkos Buch „Mädchen & Institutionen“ ist ein riesiger zu einem &-Zeichen verbogener Schlagstock zu sehen. Es geht um Gewalt in den beiden Texten, die die Aktivistin und Schriftstellerin hier veröffentlicht. Die Gewalt, die der russische Staat ausübt, aber auch die Gewalt, die Männer zuhause ausüben. In beiden Fällen sind die Opfer oft Frauen und für die setzt sich die erst 30 Jahre alte Aktivistin mit ihrem ganzen Dasein ein.

Erst letzte Woche wurde sie an der Seite von Michelle Obama und Amal Clooney von der BBC in die Liste der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen der Welt 2023 gewählt. Doch für Darja Serenko haben Listen immer etwas Hierarchisches, und sie, die vor allem in feministischen Kollektiven arbeitet, findet es schade, dass sie als Einzelperson so hervorgehoben wird. Dennoch bewirkt sie eben auch als Einzelperson vieles: als oppositionelle Schriftstellerin, als feministische Aktivistin, als russische Stimme gegen den Krieg in der Ukraine und als politische Künstlerin in Russland, und nun im Exil in Georgien.

Am Wochenende war Darja Serenko Gast bei der Veranstaltungsreihe „Das andere Russland. Literatur in der Zeit des Krieges“ in der Alten Schmiede in Wien. Ich habe sie kurz vor ihrer Lesung in einem Wiener Hotel zum Interview getroffen.

Das Gespräch mit Darja Serenko fand auf Russisch statt und wurde von Dolmetscherin Mascha Dabić ins Deutsche übersetzt.

FM4: Sie waren in Russland 15 Tage inhaftiert für Ihren Aktivismus. Jetzt kann man sagen, das ist nicht lang, andere sitzen Jahre oder Jahrzehnte in russischen Gefängnissen. Aber schon ein Tag, eine Nacht, wäre für viele Menschen wohl zu viel. Wie haben Sie diese zwei Wochen durchgehalten?

Darja Serenko: Vielen Dank für diese Frage. Es stimmt tatsächlich. Es ist nicht das Allerschlimmste, was Aktivist:innen in Russland zustoßen kann, zwei Wochen im Gefängnis zu sein. Was mir geholfen hat, war das Schreiben. Die Schrift. Ich war in Isolierhaft, in Einzelhaft, und habe dann einfach begonnen mein neues Buch zu schreiben.

FM4: Dieses Buch, über das wir heute auch sprechen, „Mädchen und Institutionen“, ist in Haft entstanden und besteht aus zwei Teilen. Wie kam Ihnen dann die Inspiration zu genau diesen beiden Texten?

Darja Serenko

Radio FM4 | Christian Pausch

Darja Serenko beim FM4 Interview in einem Wiener Hotel.

Darja Serenko: Im Gefängnis ging es mir vor allem darum, mich auf meine eigene Existenz zu fokussieren. Ich habe aber überlegt, dass es wichtig ist, Repressionen zu beschreiben. Und Zeugenschaft ist etwas sehr Wichtiges. Das Gefängnis, in dem ich mich befand, war nicht so ein richtiges Gefängnis, sondern ein Gefängnis für einen zeitweiligen Aufenthalt. Und ich habe dort genau die letzten zwei Wochen vor der Invasion Russlands in die Ukraine verbracht. Ich wurde direkt am 23. Februar entlassen und am 24. Februar fand der Angriff statt. Ich habe also genau diese zwei Wochen unmittelbar vor dem Kriegsausbruch schriftlich festhalten können. Und danach war klar, dass das ein Buch werden muss.

Am 22. Februar gab es in diesem Gefängnis keinen morgendlichen Durchgang. Normalerweise war es so, dass jeden Morgen die Mitarbeiter:innen in die Zelle gekommen sind und sie durchsucht haben. Das war so ein tägliches Ritual. Aber eben an diesem 22. Februar kam niemand und ich bin aufgewacht und habe mich gewundert, warum nicht. Später habe ich dann andere Mitarbeiter:innen des Gefängnisses gefragt, was los ist. Und dann wurde mir gesagt, die Mitarbeiter:innen sind alle für einen Kriegsvorbereitungskurs abgezogen worden. Und da ist mir klar geworden, dass die Vorbereitungen zum Krieg wirklich real stattfinden und dass das unmittelbar bevorsteht.

FM4: Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Text, der wie das Buch „Mädchen & Institutionen“ heißt, beschreiben Sie die Abwertung von Frauen im Berufsalltag. Sind das Erfahrungen, die Sie selbst gemacht haben?

Darja Serenko: Ich habe selbst vier Jahre lang in der Moskauer Kulturabteilung gearbeitet und es sind meine Erfahrungen, aber nicht nur meine Erfahrungen. Ich habe auch mit vielen anderen Menschen gesprochen. Ich habe auch journalistische Texte darüber geschrieben. Und es gibt eben viele unsichtbare Effekte der staatlichen Politik, die sich niederschlagen auf die Mitarbeitenden.

Ich habe diesen Text 2021 geschrieben, nach meiner Kündigung. Ich wurde gekündigt aufgrund meiner politischen Arbeit, aufgrund meines politischen Engagements. Und während ich dort noch gearbeitet habe, konnte ich nicht offen über diese Erfahrungen sprechen, weil ich Angst hatte, jemandem anderen zu schaden. Ich hatte auch Angst, meine Arbeit zu verlieren und irgendwann hatte ich nichts mehr zu verlieren. Und dann konnte ich all das aufschreiben.

Ich habe gearbeitet in Museen, Galerien, Bibliotheken und Universitäten. Und es ist sehr erschreckend zu sehen, dass diese Orte, an denen wir gearbeitet haben und die wir versucht haben zum Besseren zu verändern, sich inzwischen zu so Einberufungsstationen verwandelt haben. Das heißt, dort werden junge Menschen mobilisiert oder werden angeworben für den Krieg.

„In Russland ist ein Gesetz in Planung, nach dem es schon als Extremismus gilt, wenn man queer ist.“

FM4: Sie spielen damit, dass man erwachsene Frauen auf Russisch oft „Mädchen“ nennt, das wäre im Deutschen vielleicht sowas wie „junges Fräulein“ – eine klare Abwertung. Wie kann man solche Dinge, die so in der Sprache verankert sind, ändern?

Darja Serenko: So einfach ist das nicht. Dieser Ausdruck Mädchen wird ja nicht nur verwendet von oben, also von der Obrigkeit gegenüber den Frauen, sondern es ist auch ein Ausdruck, den wir untereinander verwendet haben. Und so waren wir alle eben Mädchen, also eine 60-jährige Frau genauso wie eine 20-jährige Frau. Wir haben uns immer so bezeichnet gegenseitig. Und damit haben wir uns eigentlich auch auf eine Augenhöhe zueinander begeben. Und natürlich kann man sagen, einerseits ist das eine Infantilisierung, es hat etwas Kindisches. Und andererseits ist das aber auch ein zärtliches Verhältnis untereinander.

Der zweite Teil der Frage war, wie man das verändern könnte. Sicherlich nicht mit Texten. Meine Identität ist weniger eine literarische, sondern mehr eine aktivistische. Ich bin Aktivistin und Feministin in Russland und inzwischen auch außerhalb von Russland. Und wir haben eine große Bewegung, wo wir dafür kämpfen, dass es in der Gesellschaft mehr Aufklärung gibt. Dass mehr hingewiesen wird auf patriarchale Strukturen und auf Sexismus. Und zwar auf allen Ebenen. Und wir bemühen uns für Frauen, vor allem aus vulnerablen Gruppen. Im Zusammenhang mit dem Krieg wurde auch das Abtreibungsrecht zunehmend eingeschränkt und jede Woche hören wir, dass in der einen oder anderen Region die Abtreibung verboten wird oder verunmöglicht wird. Ich hätte mir nicht gedacht, dass man im Jahr 2023 überhaupt noch für freie Abtreibung oder für das Abtreibungsrecht hätte kämpfen müssen. Aber es ist so!

In Russland gibt es außerdem noch immer kein richtiges Gesetz gegen häusliche Gewalt. Es gibt auch nicht so etwas wie Annäherungsverbote oder Betretungsverbote. Das ist jedenfalls sehr schlecht entwickelt und Opfer sexualisierter Gewalt erhalten viel zu wenig Unterstützung. All das zusammengenommen bildet einen fruchtbaren Boden für Militarisierung und für Krieg. Diese geschlechterbezogene Gewalt schafft einen Teufelskreis und das versuchen wir auch in unseren aktivistischen Bewegungen zusammenzufassen. Unser Slogan ist: Der Krieg beginnt zuhause. Also diese Gewalt, die an den nächsten Familienmitgliedern ausgeübt wird, entwickelt sich weiter zu einer Gewalt, wo dann ein Staat Gewalt ausübt gegen einen anderen Staat.

„Wir haben die Gewalt verinnerlicht.“

FM4: Im zweiten Text des Buches, der heißt „Ich wünsche Asche meinem Haus“, da sagen Sie: „Wir haben die Gewalt verinnerlicht.“ – sehen Sie einen Ausweg für Russland aus der Gewalt?

Darja Serenko: Viele meiner Kolleg:innen aus der Opposition reduzieren das ganze Problem gerne auf die Person Putins. Sie spitzen das auf ihn zu. Und das stimmt natürlich, wenn Putin eines Tages weg ist, wird es einfacher sein. Aber es geht nicht nur um Putin allein. Putin ist nicht das einzige Problem, sondern es gibt ein ganzes System, das auch schon vor Putin aufgebaut wurde. Also ein System, das auf Gewalt beruht und zwar auf Gewalt gegen Frauen, gegen LGBTIQ-Personen, gegen Migrant:innen, also einfach gegen Menschen aus vulnerablen Gruppen. Und ich gebe mich nicht der Illusion hin, oder ich bin nicht so naiv zu glauben, dass, wenn Putin eines Tages verschwindet, wir alle plötzlich glücklich leben werden können und dass es plötzlich ein gutes Gesetz gegen häusliche Gewalt geben wird oder so etwas in der Art. Wir werden auch nach Putin weiterkämpfen müssen. Denn dort, wo es einen Tyrannen gibt, gibt es auch andere Tyrannen und das System produziert solche Tyrannen und bringt sie hervor. Wir werden also kämpfen müssen für unsere Repräsentation in der Gesellschaft. Das heißt, Frauen werden auch in einer Postkriegsära Russlands für ihren Platz kämpfen müssen.

Darja Serenkos Buch "Mädchen und Institutionen"

Suhrkamp

„Mädchen & Institutionen“ von Darja Serenko ist im Suhrkamp Verlag erschienen, übersetzt aus dem Russischen von Christiane Körner.

FM4: Sie setzen sich als Aktivistin auch für LGBTIQ-Personen ein. Wie wird dieses Engagement innerhalb der russischen Aktivist:innen-Szene wahrgenommen? Es gibt ja auch oft Homophobie in progressiven, feministischen Kreisen...

Darja Serenko: Ich denke, in Russland hat man in den liberalen, progressiven Kreisen mittlerweile verinnerlicht, dass Homophobie etwas Schlechtes ist. Ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht vor fünf oder sieben Jahren so etwas hätte geben können. Aber heute sehe ich zumindest viel Solidarität in den progressiven Kreisen mit LGBTIQ-Personen und -Aktivist:innen.

Es ist ein Gesetz in Russland in Planung, wonach queer zu sein schon als Extremismus gilt und verboten werden soll. Außerdem sollen Geschlechtsumwandlungen und medikamentöse Behandlungen für Trans-Personen verboten werden.

FM4: Sie wurden gerade vor ein paar Tagen von der BBC unter die 100 einflussreichsten Frauen der Welt gewählt. Hat so etwas eine Bedeutung für Sie, oder für Ihre aktivistische Arbeit?

Darja Serenko: Ehrlich gesagt nein. Ich habe angesichts dieser Wahl durch die BBC ziemlich viel Unbehagen empfunden und auch Schamgefühle, weil ich skeptisch bin gegenüber Listen. Also eine Liste ist immer auch eine Hierarchie. Und mein Hirn hat dann sofort begonnen auf Hochtouren zu arbeiten und sich der Frage zu widmen, ob ich, wenn ich auf einer solchen Liste bin, ob ich damit die Hierarchien nur reproduziere, oder ob ich diese Liste als Gelegenheit sehen soll. Es könnte ja auch eine positive Möglichkeit sein, mehr zu tun und mehr Öffentlichkeit zu bekommen für meine Sache. Aber es ist für mich eine große ethische Frage, denn ich arbeite nie allein. Ich arbeite immer in horizontal strukturierten Kollektiven. Von der BBC als Einzelperson auf diese Weise ausgezeichnet zu werden, ist zwar etwas, was mich schon auch mit Dankbarkeit erfüllt. Ich bin froh, dass man mich oder meine Arbeit bemerkt hat. Aber es gehen damit auch viele sehr komplexe Gefühle einher.

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