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Pristina Callcenter

Diana Köhler

Reportage

Was wird die Visa-Liberalisierung des Kosovo 2024 verändern? Wir suchen nach Antworten im Callcenter

Ab dem 1. Jänner 2024 dürfen Menschen aus dem Kosovo endlich ohne Visum in die EU einreisen. Ein Riesenschritt. Im Kosovo leben die meisten jungen Menschen in ganz Europa. Vom Rest der EU fühlen sie sich ausgeschlossen. Wer den Kosovo verstehen will, braucht nur in eines der vielen Callcenter mit ihren jungen Mitarbeiter:innen schauen. Was wird die Visa-Liberalisierung verändern?

Von Diana Köhler

Im Zentrum von Pristina, hinter der Fußgängerzone und zwischen hohen Wohnhäusern liegt das Bürogebäude von Beep Solutions. Eines der vielen Callcenter im Kosovo. Es ist bereits September, aber untertags immer noch sehr warm. Einige Mitarbeitende machen gerade Pause, stehen draußen im Schatten, rauchen eine Zigarette. Bei ihnen steht Arlind Xheladini, er ist hier der Chef. Korrekter Seitenscheitel, rötlicher Bart, Grübchen. Das Outfit: Business Casual. Blaues Leinenhemd kombiniert mit beigen Khakis. Er ist 27 und leitet Beep Solutions zusammen mit seinem Geschäftspartner. Der ist heute aber nicht da. Zwar kommt er ursprünglich auch aus dem Kosovo, lebt aber schon länger in der Schweiz. Er betreibt mehrere Restaurants und seit ein paar Jahren zusammen mit Arlind auch das Callcenter.

Pristina Callcenter

Diana Köhler

Hallo, wer spricht da?

Bevor wir in den Callbereich dürfen, muss ich zuerst meinen Besucher:innenpass holen. An der Rezeption sitzt die ehemalige Miss Albania 2016 (ohne Spaß). Sie arbeitet hier im Sekretariat.

Die Büroräume sind modern, hell, viel Glas, es gibt einen großen Meetingraum mit Beamer. Im größten Raum sitzen die „Agents“, wie Arlind sie nennt, es sind um die 20 Leute. In langen Reihen Headsets über den Ohren, Trennwände zwischen den Arbeitsplätzen. Alle sind am Telefonieren, natürlich. Auf einer Wand steht „Success“ auf der anderen „Motivation“. Auf einem Flipchart wird der Tagesumsatz festgehalten, und auch Office-Humor fehlt hier nicht. Auf einem kleinen Plakat steht: „Zuerst auflegen und dann Axxxxxxxx sagen“.

Die Agents verkaufen gerade ein Produkt, mehr darf ich nicht verraten. Aber Beep Solutions bietet auch Leistungen wie Servicehotlines und Anzeigenverkauf an. Zu den Kunden gehören vor allem deutsche Unternehmen: Eine große Softwarefirma, die Virenscanner anbietet, ein Energieunternehmen, eine Firma, die Kaffeeautomaten verkauft oder ein Teleshoppingkanal zum Beispiel. Das heißt, wenn ich Probleme mit meiner Anti-Virensoftware habe und beim Kundenservice anrufe, könnte es sein, dass ich mit jemandem im Kosovo telefoniere.

Pristina Callcenter

Diana Köhler

Outsourcing in den Kosovo

Arlind ist seit ungefähr 10 Jahren in der Branche unterwegs und hat in einem der großen Callcenter begonnen, erzählt er: „2008 gab‘s das erste deutsche Callcenter im Kosovo. Hatte um die 150 Mitarbeiter, haben sie direkt vollgebucht. Und mittlerweile gibt es hunderte.“

Der Callcenter-Bereich ist eine der am stärksten wachsenden Wirtschaftssparten im Kosovo. 2014 gab es laut einem Bericht der kosovarischen Wirtschaftsagentur noch 220 Callcenter. Jetzt, 10 Jahre später, sind es schon fast 2000, bei einer Bevölkerung von 1,9 Millionen Menschen. Zusammen mit Indien und den Philippinen ist der Westbalkan, zu dem auch der Kosovo gehört, das Zentrum für Callcenter-Dienste weltweit. Das liegt vor allem an der Lage und den guten Deutschkenntnissen der kosovarischen Exilbevölkerung. Während des Kosovokriegs 1998/1999 sind die Menschen hier zu hunderttausenden geflüchtet, nach Westeuropa und somit auch nach Deutschland, Österreich und die Schweiz. Schon im Laufe der 90er Jahre sind um die 500.000 Kosovo-Albaner*innen nach Westeuropa gezogen.

Für Arlind ist klar, warum sich die Callcenter-Branche vor allem hier etablieren konnte: „Das haben die damals erkannt und haben es genutzt. Weil, wie jeder weiß, hier sind die Kosten niedrig und dabei ist die Qualität trotzdem hoch.“

Double-Win für Firmen also: Wenn sie outsourcen, zahlen sie nicht nur um ein Vielfaches weniger. Das Lohnniveau ist niedrig. Auch ist Deutsch oft sogar die Erstsprache vieler vor allem junger Menschen hier. Verdienen kann man im Callcenter im Durchschnitt 750 Euro, plus Provision. Das klingt für österreichische Maßstäbe nach extrem wenig, liegt aber deutlich über dem kosovarischen Durchschnittsgehalt von 512 Euro.

Callcenter vom Westbalkan sind bei uns vor allem dann in den Medien, wenn es um Betrug und schlechte Arbeitsbedingungen geht. Vielleicht betont Arlind bei unserer Tour vor allem deswegen besonders, wie hoch die Sicherheitsstandards bei Beep Solutions sind und wie super es für die Mitarbeitenden läuft.

Der Kosovo ist das jüngste Land Europas mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren. Jede:r zweite ist unter 25 Jahre alt. Das sieht man auch, wenn man in die Büros der Callcenter schaut: Die meisten sind hier zwischen 18 und 30 Jahren alt.

Pristina Callcenter

Diana Köhler

Das Callcenter, der Familienbetrieb

Ich gehe mit Arlind in den Meetingraum, hier ist es etwas ruhiger. Wir wollen die Agents nicht zu sehr beim Arbeiten stören. Seine Frau Sofia kommt mit, sie arbeitet auch hier. Perfekt geschminkt, lange braune Haare, sie sieht aus wie ein Model. Arlind und Sofia haben sich sogar im Callcenter kennengelernt.
Sofia ist 29 Jahre alt und in Deutschland geboren, wie ihr Mann. Nach 6 Jahren ist ihre Familie aber in den Kosovo zurückgezogen. Sie hat Jus studiert, aber dann keine Arbeit in ihrem Bereich gefunden. Der Plan B war das Callcenter.
Wie Sofia geht es vielen: Hohe Bildungsabschlüsse von Mitarbeitenden im Callcenter sind nichts Ungewöhnliches. Das Callcenter ist für viele eine relativ gut bezahlte Alternative, wenn es mit der Jobsuche sonst nicht klappt.
Arlind erzählt: „Von meiner Familie arbeiten 10 Cousins und Cousinen im Callcenter. Und jetzt sogar meine Ehefrau und auch ihre Geschwister, alle arbeiten im Callcenter-Bereich. Auch einige Klassenkameraden aus der Schulzeit, die Deutsch konnten, habe ich nach der Uni hier wieder im Callcenter getroffen.“

Der Kosovokrieg 1998 bis 1999 war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Konflikts um die Autonomie des Kosovo innerhalb der Jugoslawischen Föderation. Im Krieg wurde die kosovarische und vor allem die kosovo-albanische Zivilbevölkerung Opfer systematischer Überfälle, Vertreibungen und Massenmorde. Auch die kosovo-albanische Befreiungsarmee UÇK hat sich schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht. Doch schon vor dem Krieg gab es eine große kosovarische Diaspora auch in Österreich. Viele sind als Gastarbeiter:innen mit ihren Familien schon in den 70ern hergezogen. Arlinds Familie ist Mitte der 90er nach Deutschland gegangen, er selbst ist dort geboren.

Albanischverbot zu Hause

Arlind durfte in Deutschland zu Hause überhaupt kein Albanisch sprechen: „Ich konnte zuerst gar kein Albanisch, weil bei uns war Albanischverbot zu Hause mit meinen Geschwistern. Meine Eltern wollten, dass wir uns in der Schule leichter tun. Als wir zurück in den Kosovo gezogen sind, musste ich die Sprache erst lernen. Aber ich hatte eine sehr nette Lehrerin, die mit mir jeden Tag nach der Schule geübt hat.“

Einen Job zu finden ist trotz guter Ausbildung schwer im Kosovo. Die Arbeitslosenquote liegt bei rund 45%, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei rund 76%. Viele vor allem junge Menschen entscheiden sich daher dafür, ins Ausland zu gehen; die meisten Menschen, die den Kosovo verlassen, sind zwischen 20 und 35 Jahren alt. Ein Drittel der Kosovar:innen lebt im Ausland. Auch Arlinds Geschwister leben in Deutschland und Österreich. Migration ist immer noch die wichtigste Strategie, um Geld zu verdienen.

Die, die im Kosovo bleiben, setzen die deutsche Sprache ein, sagt Arlind: „Genau diese Jahrgänge zwischen 1990 bis 2002, von denen wurden die meisten in Deutschland oder Österreich geboren oder der Schweiz. Deutsch war also ihre Erstsprache! Und das setzen sie jetzt ein, in verschiedenen Callcentern.“

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Diana Köhler

Chef Arlind und Agent Loran

Loran, der Post-2000er

Eine dieser Jahrgänge ist Loran. Er hat einen blonden Lockenkopf und grinst breit, wenn er redet. Er arbeitet jetzt für das englische Projekt von Beep Solutions. Loran war auf der amerikanischen Schule in Pristina, deswegen klingt sein Englisch auch sehr gut. Mit seinem Chef Arlind versteht er sich super: „Ja, ich bin Post-2000-Kind, Leute machen Witze über mich. Mein Chef sagt immer zu mir, ich bin jünger als sein Auto!“, sagt er und lacht breit.

Am Telefon heißt er aber nicht Loran, sondern Liam. Das können die Amerikaner besser aussprechen, meint er. Aber wer weiß, vielleicht dürfen die Kund:innen auch gar nicht merken, von wo aus er da anruft, denke ich mir. Loran zeigt mir seinen Arbeitsplatz. Über seinem Bildschirm hockt ein blauer Teddybär. Er schaut etwas mitgenommen aus, Loran und die anderen haben ihn auf der Straße gefunden und adoptiert. Auf Lorans Kaffeetasse steht: „Good luck finding Co-workers which are better than us”. Er gibt mir außerdem ein paar Tipps, wie das mit dem Verkaufen auch richtig klappt: Selbstbewusstsein ist auf jeden Fall key: „Du musst confident sein, die am Telefon spüren das!“

Loran fühlt sich wohl im Callcenter bei Arlind, das merkt man. Er und sein Chef scherzen oft. Viele von Lorans Freund:innen sind aber nicht hiergeblieben im Kosovo, erzählt er: „Dieses Land ist schön und alles, tolle Leute, aber die Regierung ist echt enttäuschend ist. Wäre es möglich für uns, hier zu bleiben, wir würden es tun. Denn unsere Großväter und -mütter haben für diesen Platz gekämpft. Und dann hast du unsere Generation, die leider keinen anderen Ausweg sieht als auszuwandern.“

Geboren ist Loran in Bayern. Mit 12, also im Jahr 2014, ging’s zurück in den Kosovo. Der war bis 2008 noch ein Teil Serbiens. 2008 hat das Parlament Kosovos die Unabhängigkeit verkündet, aber Serbien erkennt den Staat bis heute nicht an. Auch im vergangenen Herbst gab es wieder Grenzkonflikte. Bisher haben über 111 Länder der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen den Kosovo anerkannt. Darunter die meisten EU-Länder. Doch viele Staaten der Erde sehen den Kosovo offiziell immer noch als eine serbische Provinz. Zum Beispiel Russland und China und die 4 EU-Staaten Spanien, Griechenland, Slowakei und Rumänien.

Auch für Loran und seine Familie hat das bis heute Auswirkungen. Obwohl er 12 Jahre in Deutschland gelebt hat, dort aufgewachsen ist, hat er nicht die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Wenn er vom Kosovo aus seine Freund:innen besuchen wollte, musste er sich ein Visum besorgen.

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Diana Köhler

„Visa-Liberalization comes 2024!“

Der Visaprozess war bis jetzt für die Menschen aus dem Kosovo eine langwierige und teure Angelegenheit. Ein Visumsantrag für den Schengenraum der EU kostet rund 165 Euro. Bei einem Durchschnittsmonatsgehalt von 521 Euro eine riesige Summe Geld. Und eine große Belastung: Studieren, Freund:innen und Familie besuchen oder einfach mal auf ein Konzert in einem EU-Land fahren: Das war mit einem Riesenaufwand verbunden. Viele haben sich isoliert vom Rest der EU gefühlt, schreibt das Kosovarische Onlinemagazin „Kosovo 2.0“.

Ab dem 1.1.2024 dürfen die Kosovar:innen jetzt endlich ohne Visum bis zu 90 Tage in die EU reisen. Rund 14 Jahre später als ihre direkten Nachbarstaaten wie Montenegro, Serbien oder Albanien. Gründe für den langen Prozess waren laut der Europäischen Kommission unter anderem der Grenzstreit mit Montenegro und die Konflikte im Dialogprozess mit Serbien.

Was Loran 2024 machen wird, weiß er schon: Einen Roadtrip nach Deutschland, ohne Visum und Stress und seine Freunde besuchen. Fehlende Perspektiven und die frustrierende politische Lage sind desillusionierend. Loran will sich aber nicht unterkriegen lassen:
„Viele sind abgehauen, weil mit denselben Skills kannst du woanders mehr machen als hier. Aber das ändert sich! Ich sehe, wie sich das ändert! Und ich habe sehr viel Hoffnung für meine Generation und die Leute, die nach mir kommen. Man sieht‘s überall in der Geschichte, jedes Mal, wenn ein Land zerstört wird, so wie wir, dann kommt man zurück. Wir kommen zurück. Und das ist etwas, was mich sehr stolz macht und deswegen möchte ich auch Teil davon sein.“

Diese Recherchereise wurde im Zuge des Recherchestipendiums Eurotours finanziert.

Auch Arlind und Sofia planen ihre Zukunft im Kosovo. Sie sind optimistisch, was die Zukunft angeht. Der Mindestlohn sei gestiegen, den Leuten gehe es besser. „Aber man weiß nie, was in 10 Jahren sein wird“, sagt Arlind. Er wird dann auf jeden Fall noch hier sein.

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