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Szenenbild "The Holdovers"

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Filmpodcast

Die Köchin, der Lehrer, sein Schüler und keine Liebhaber

„The Holdovers“ sprengt das Label „Weihnachtsfilm“ und ist ein fantastischer Film über eine Zusammenraufung, eingehüllt in Schnürlsamt und Zigarettenrauch.

Von Pia Reiser

FM4 Filmpodcast: Ein Soulcrusher und ein Heartwarmer: „Society of the Snow” und “The Holdovers”

Außer, dass sie in den 1970er Jahren spielen, in beiden Filmen Schnee vorkommt und beide für Oscars nominiert sind, haben die besprochenen Filme nichts gemeinsam. Pia Reiser und Christian Fuchs begeben sich zuerst in Alexander Paynes Herzensbildungs- und Zusammenraufungs-Tragikomödie „The Holdovers“. Und stellen sich danach dem virtuos inszenierten Überlebensdrama „Society of the Snow“, das die so unglaubliche wie verheerende wahre Geschichte einer Rugbymannschaft erzählt, die 1972 mit einem Flugzeug in den Anden abgestürzt ist.

Am 5.2.2024 um Mitternacht im FM4 Filmpodcast

Stellt euch kurz mal vor, „Das fliegende Klassenzimmer“ und „Dead Poets Society“ hätten ein Kind bekommen, es in ordentlich Zigarettenrauch und Schnürlsamt gehüllt und dann auf die Leinwand gepfeffert. Dieses außerordentlich schöne Kind heißt „The Holdovers“ und ist ab Freitag endlich in den österreichischen Kinos zu sehen.

Viele, die den Namen Alexander Payne hören, denken schmerzerfüllt an die Midlife-Crisis-Weinexperten-Schmonzette „Sideways“ und vergessen vielleicht auf Filme wie „Election“, „About Schmidt“ oder „Nebraska“. Payne schlägt in seinen Filmen gern satirische Töne an, aber wird nie zynisch, seine Filme pflegen den Humanismus und die Komik, sie sind verschwägert mit den Filmen von Noah Baumbach, die Figuren erinnern aus der Ferne an Figuren des frühen Woody Allen, auch in einem Film von Whit Stillman würden sie nicht auffallen. Mit „The Holdovers“ nimmt sich Payne jetzt erstmals ein Drehbuch vor, das er nicht selbst geschrieben, aber immerhin in Auftrag gegeben hat.

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Do they know it’s Christmas time at all?

Nachdem Payne Marcel Pagnols „Merlusse“ (1935) gesehen hat, fällt ihm ein, dass er das Drehbuch zu einem Fernsehpiloten über ein Internat von David Hemingson gelesen hat und ruft Hemingson an. Die Ausgangssituation aus „Merlusse“ findet sich auch in „The Holdovers“: Ein Lehrer und ein Schüler verbringen die Weihnachtsfeiertage im verlassenen Schulgebäude.

Ausgesucht hat sich diese Situation niemand. Für den Lehrer Paul Hunham (Paul Giammatti) ist es eine Bestrafung dafür, dass er einem Schüler aus sehr gutem und reichem Hause eine schlechte Note gegeben hat; die Schule hat dadurch einen wichtigen Geldgeber verloren. Und eine Gruppe von Schülern kann nicht nach Hause fahren, weil die Eltern in Korea leben, für eine Mormonenmission unterwegs sind - oder die Flitterwochen nachholen wollen.

Diese kleine bunch of misfits, geplagt von den üblichen Schulproblemen und Heimweh und der Situation, Weihnachten in einem eiskalten und leeren Schulgebäude verbringen zu müssen, hat jetzt mit Hunham auch noch eine Aufsichtsperson vor der Nase, die vom Konzept Ferien nur wenig hält.

Schon die ersten paar Szenen, die zeigen, worüber die Schüler streiten, wie sich Sympathien verteilen und wie manchmal die harte Schale „Coolness“, die man sich wohl oder übel in einem Internat zulegen muss, manchmal aufbricht, sind grandios. Wenn dann fast deus ex machina oder halt papa ex helicopter die meisten Schüler zu einem Skiurlaub eingeladen werden, bleibt Angus Tully allein mit dem schrulligen Lehrer zurück - und mit der Köchin und Betreiberin der Schulkantine, gespielt von der fantastischen Da’Vine Joy Randolph, die für die Darstellung der Mary Lamb wohl mit dem Oscar ausgezeichnet werden wird. Dominic Sessa und seine Wangenknochen geben als Angus ein sensationelles Leinwanddebüt. Räder schlagen kann er auch noch.

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Das eingeschneite New England der 1970er Jahre wirkt herrlich idyllisch, doch zwischenmenschlich herrscht hier alles andere als Weihnachtsfrieden. Angus Tully ist verletzt, weil seine Mutter lieber Zeit allein mit ihrem neuen Mann verbringt, als ihren Sohn zu Weihnachten zu sehen, und Paul Hunham, der sich hinter seinem akademischen Wissen versteckt und gerne auch Gemeinheiten (wenn auch gut formulierte) im Unterricht austeilt, muss irgendwann zugeben, dass es da ja doch mehr im Leben gibt, als Pfeife zu rauchen und über die Punischen Kriege zu sprechen. Und Mary - obwohl sie noch über einen schweren Verlust trauert - ist der geerdete Anker, der mit trockenem Humor die Wehwehchen von Angus und Paul kommentiert.

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Lieblings-Randphänomen-Berichterstattung zu Paul Giamattis „lazy eye“ in „The Holdovers“

Selbstüberschätzung, Trauer, Sehnsucht und viele unerfüllte Träume füttern die exzellenten Dialoge von „The Holdovers“. Es ist ein Film, der sich in unzähligen Brauntönen, Holzvertäfelungen und vor allem massig Zigarettenrauch auf der Leinwand ausbreitet. Wir landen auf Wohnzimmerpartys, auf dem Eislaufplatz und im Krankenhaus, und die drei holdovers wachsen einem ans Herz.

Der Film spielt nicht nur in den 1970er Jahren, sondern erweckt auch perfekt das Sentiment von Filmen aus dieser Zeit. Filme wie „Harold und Maude“ oder „Paper Moon“ hat Payne seinen Schauspieler:innen vor den Dreharbeiten gezeigt.

„The Holdovers“ läuft bereits in den österreichischen Kinos.

Kein Kitsch, keine Kalenderspruchrhetorik: „The Holdovers“ ist ein wunderschöner Film über Herzensbildung und eine Zusammenraufung - und lasst euch bloß nicht vom Weihnachtsfilm-Label abschrecken. T’is the season to be jolly sollte ja immer gelten, rein theoretisch.

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