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Filmstill aus "All of Us Strangers"

Searchlight Pictures

FILM

Magie und Melancholie: “All of Us Strangers” ist eine Geistergeschichte der anderen Art

Ein Meisterwerk des queeren Kinos, ein hypnotischer Pop-Film, eine universelle Annäherung an Verlust und Tod: Andrew Scott und Paul Mescal brillieren in einem Liebesdrama abseits aller Kategorien.

Von Christian Fuchs

Als der neue Film des britischen Regisseurs Andrew Haigh auf der Viennale seine Österreichpremiere feiert, hört man auch hierzulande Geschichten über Tränenstürme im Kinosaal. Dabei hat „All of Us Strangers“ nichts mit kitschig angehauchten Hollywood-Melodramen gemeinsam. Der bittersüße Plot entfaltet sich weitab üblicher manipulativer Gefühlsstrategien. Haigh verpackt die queere Lovestory in eine halluzinatorische Erzählung, bei der die Grenzen zwischen Tag und Nacht, Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen.

Überhaupt findet man kaum vergleichbare Werke, auch nach längerer Überlegung. Am ehesten kommt dem Schreiber dieser Zeilen noch das Kino des Hongkong-Regisseurs Wong Kar-Wai in den Sinn. Gefeierte Arthouse-Meilensteine wie „Fallen Angels“ oder „Happy Together“ waren in den 1990er Jahren das visuelle Pendant zum damals populären Trip-Hop-Sound.

Verschleppte Beats und laszive Gesänge dominierten dieses Musikgenre, die Stimmung erinnerte an drogenschwangere Momente in der Morgendämmerung. Trip Hop wurde als perfekter Schlafzimmer-Soundtrack gefeiert. Und handelte doch auch vom Tag danach, von der Katerstimmung und der Melancholie. „All of Us Strangers“ ist in diesem Sinne so etwas wie Trip Hop für die Augen.

Filmstill aus "All of Us Strangers"

Searchlight Pictures

Sehr lebendige Gespenster von Nebenan

Schon die Eröffnungssequenz erinnert an ikonische Videos von Massive Attack oder Tricky. Ein Mann mittleren Alters (Andrew Scott) lebt da in einem brandneuen Londoner Hochhaus, scheinbar ganz alleine driftet er durch die Gänge und schreibt isoliert in seinem Apartment an einem Drehbuch über die eigene Kindheit in den 1980er Jahren.

"Saltburn“ Hauptdarsteller Barry Keoghan, Oscar-Kandidat Cillian Murphy und „The Killer“ Michael Fassbender - was haben sie alle gemeinsam? Wie viele andere Stars des angloamerikanischen Kinos kommen sie aus Irland. Auch Andrew Scott, der Hot Priest aus der Kultserie „Fleabag“, wurde in Dublin geboren. Scott spielt in „All of Us Strangers“ an der Seite des neuesten irischen Wunderkinds: Paul Mescal.

Dessen Durchbruch erfolgte 2020 in der Fernsehserie „Normal People“. Ein passender Titel, denn Mescal wirkt stets alltäglich in seinen Rollen, ob als sensibler Papa in „Aftersun“ oder Liebhaber in „All of Us Strangers“. Geerdet und doch charismatisch. Ein neuer Arthouse-Kinotyp, demnächst dann als Titelheld in Ridley Scotts „Gladiator 2“ zu sehen.

Die Entfremdung rund um diese Figur ist spürbar wie in einer stylischen Science-Fiction-Dystopie, „All of Us Strangers“ scheint aber in der Gegenwart angesiedelt. Autor Adam trifft eines Tages auf eine andere einsame Seele, den jüngeren Harry (Paul Mescal). Eine Liebesgeschichte und Sex-Affaire bahnt sich an. Die beiden Männer tauschen bald intime Geheimnisse aus, einen wichtigen Strang in seinem Alltag verschweigt Adam dem Freund aber zunächst: seine Eltern.

In unregelmäßigen Abständen besucht Adam sein früheres Elternhaus in einem Vorort - und plötzlich brennt Licht im Wohnzimmer. Wir Zuseher:innen wissen: Mama und Papa sind gemeinsam bei einem Unfall ums Leben gekommen, als der Sohn noch ein Kind war. Trotzdem sitzt Andrew Scott als traumatisierter Einzelgänger dann ganz selbstverständlich vor Claire Foy und Jamie Bell, die sehr lebendige Gespenster von Nebenan verkörpern. Am Küchentisch wird diskutiert: über die Eigenheiten des Buben, über wichtige Familienmomente, auch über Queerness; die in den 80ern konservierten Erziehungsberechtigten stehen für noch etwas konservativere Weltbilder.

Filmstill aus "All of Us Strangers"

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Chemie zwischen verlorenen Seelen

„All of Us Strangers“ verküpft nahtlos Motive von Geisterfilmen (ganz ohne Horror oder Bedrohungen) mit einem Beziehungsdrama, glänzt mit hypnotischen Club-Szenen und Pop-Zitaten. Zusammengehalten wird dieser Mix durch fantastische Schauspieler:innen. Claire Foy funkelt in der Mutterrolle, oszilliert zwischen Zärtlichkeit und Strenge.

Es sind aber Andrew Scott und Paul Mescal, die sich richtiggehend in die Netzhaut einbrennen. Ersterer, im Serien-TV („Sherlock“, „Fleabag“) auf flamboyante Charaktere abonniert, fasziniert hier als stiller Posterboy urbaner Loneliness. Sein junger Kollege spielt sich charmant und wehmütig zugleich in die obere Shootingstar-Liga. Allein schon die Chemie zwischen diesen verlorenen Seelen ist den Kinobesuch wert.

Filmstill aus "All of Us Strangers"

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Alles an dieser Reise durch die zwischenmenschliche Twilight-Zone (sehr frei nach einem Buch des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada inszeniert), wirkt berauschend. Enorm stylische, aber niemals verwechselbare Bilder, spitzenmäßige Dialoge und Musik, die zwischen euphorischer 80er und 90er Hommage pendelt.

Am Ende flackert dann so viel Wärme in der tiefsten Dunkelheit auf, so viel Power of Love, dass Herz und Augen überquellen; die Taschentücher nicht vergessen. Eine große Empfehlung für „All of Us Strangers“, einen der magischsten Filme der Gegenwart: purer Trip Hop für die Sinne.

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#219 FM4 Filmpodcast: Tearjerkers - All of us Strangers + Past Lives

Überall wo „All of Us Strangers“ anläuft, sorgt der Film für Tränenstürme im Kinosaal. Dabei wirkt die queere Liebesgeschichte wie ein Gegenstück zu gängigen Hollywood-Melodramen. Der britische Regisseur Andrew Haigh fasziniert mit einer halluzinatorischen Annäherung an Liebe, Verlust und Tod. Taschentücher sollte man auch bei „Past Lives“ bereithalten. Die südkoreanische Regisseurin und Autorin Celine Song erzählt in ihrem berührenden Werk von zwei Kindheitsfreunden, die ihre Beziehung über Jahrzehnte und Kontinente retten wollen. Eine Tearjerker-Episode mit Pia Reiser und Christian Fuchs.

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