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Portraitfoto Christl

© Hilde van Mas

Musik

Die Kunst von Christl als Traumabewältigung

Die Sängerin und Künstlerin Christl lässt uns mit ihrem Debüt „Green Blue Violet / Grün Blau Violett“ ungefiltert in ihre Innen- und Außenwelt blicken. Ihre Musik, Texte und bildnerischen Arbeiten tragen zu Recht die Bezeichnung Kunst. Denn sie schaffen es schlimme Lebenserfahrungen zu transformieren.

Von Andreas Gstettner-Brugger

Kunst kann man nicht wollen, man macht sie „einfach“. Man kann nicht anders. Es ist der innere Drang, sich und seine Gefühle und Erlebnisse auszudrücken. Und so sprudelt es aus der jungen Christl heraus. Es ist ihr sicherer Hafen, wie stürmisch die See in der Außen- und Innenwelt auch sein möge. Die Kreativität ist ihr Anker. Die Medien von Christl sind dabei Musik, Text, Zeichnungen, aktionistische Projekte und vor allem ihre Stimme.

Vor zwei Jahren ist ihre Single „Object of Desire“ erschienen. In dem poppigen und hymnisch klingenden Song verarbeitet die junge Sängerin aus Oberösterreich ihre Gewalterfahrungen und macht Mut gegen die Objektifizierung von Frauen einzutreten.

Christl ist nicht nur Musikerin, die ihre Songs als therapeutische Verarbeitung nützt, sondern sie schafft mit ihrer multimedialen Kunst auch Raum für diese Themen in der Öffentlichkeit.

So folgt auf die Single eine Kunstaktion gegen „catcalling“, dem sexuell anzüglichen Rufen, Reden, Pfeifen oder Gestikulieren gegenüber einer Person in der Öffentlichkeit. Am Urban-Loritz-Platz in Wien organisiert sie ein Treffen, wo Betroffene und Künstler:innen ihre Erlebnisse sexueller Belästigung Ausdruck verleihen können und klare Aussagen auf den Boden schreiben und zeichnen.

Die Sprache als Ausdruck des Innenlebens

Letztes Jahr hat Christl dann den Raum ihres Innenlebens erweitert mit dem Buch „Ich glaub ich hasse mich“. Es ist ein intensives Erlebnis in diesen Raum einzutreten.

Christl gibt Einblick in viele Emotionen, denen wir uns in unserem alltäglichen Leben nicht gerne stellen, sondern sie eher unter Aktivität und Beschäftigt-sein begraben. Dabei beschönigt sie nichts oder versteckt sich nicht hinter Redewendungen, Metaphern oder kunstvollen Sprachbildern. Sie schafft es eine eigene Sprache für ihre Gewalterfahrungen zu finden. Dabei lässt sie ihr Unbewusstes sprechen: In Gedichten, Songtexten oder selbstreflektierenden Geschichten. Dazu sind im Buch ihre berührend gezeichneten Selbstportraits zu finden.

Wenn die Musik dazukommt

Jetzt erscheint Christls Debütalbum „Green Blue Violet / Grün Blau Violett“, ein mutiges, fassettenreiches und zutiefst ehrliches Album. Es trägt schon im Titel die Farben, die nach einem Gewaltübergriff auf der Haut des Opfers zurückbleiben.

Albumcover CHRISTL Grün Blau Violett / Green Blue Violet

Hilde van Maas

/Christls Debüt Album „Green Blue Violet / Grün Blau Violett“ erscheint am 23.02.204 bei INK Music.

Es ist die musikalische Erweiterung ihres Buches, ihrer Kunst und ihrer ganz persönlichen Geschichte. Es verhandelt die Frage, wie man nach traumatischen Gewalterfahrungen weiter machen kann und beschreibt oft in deutlichen, klaren Worten, wie sich diese Erfahrungen auf das eigene Leben auswirken. Das Zurückziehen in einen Kokon, in die Taubheit, das „nicht fühlen müssen“.

Dabei ist ihr jedoch immer klar, dass es das Ziel ist, sich immer wieder auf den Weg zurück ins Leben zu machen, was mitunter ein harter, innerer Kampf sein kann. Und genau dabei hilft Christl ihre Kunst und auch ihre Kunstfigur, sich von der eigenen Geschichte auch distanzieren zu können und sie gleichzeitig nicht zu verdrängen.

Mit Nora Einwaller, Studierende an der Filmakademie Wien, hat sie einen Kurzfilm gedreht, der einen guten Einblick in Christl und ihren Bezug zur Kunst bietet.

Das Album „Green Blue Violet / Grün Blau Violett“ wurde von Andreas Lettner (5K HD) produziert und beim Songwriting von Eva Klampfer (Lylit) begleitet. Das hört man so manchem Song an, der sich mit der kraftvollen Stimme von Christl zu einer opulenten Hymne aufschwingt, wie im Eröffnungssong „XX“, der mit den ersten Zeilen die Stoßrichtung des Albums vorgibt:

Why did you give me life
When you can’t handle yours
Was I the child or were you?
All I see is you as your father’s daughter
And I feel for her
I know you’re carrying legacy
That colors what you give to me
All I do and all I am
Is to paint what you’ve never been

Der heftigste Song auf dem Album ist sicher „Weit Weg“. Selten hat ein deutschsprachiger Song derart behutsam, verletzlich und zugleich brutal ehrlich ein Gewalterlebnis geschildert. Nur mit Klavier gibt Christl ihren Erfahrungen eine Stimme.

Christl live:
- 29.02.24 Album Präsentation mit Live-Band, Radiokulturhaus Wien

Ein Song, der zwischen Verzweiflung und der Aussicht auf ein anderes Leben pendelt, ist „Dark Blood“. Christl artikuliert den Wunsch, sich zwischen den Zeilen ihrer Kunst verstecken zu wollen und gleichzeitig der Sehnsucht nach Geborgenheit.

Es ist ein Song über das Erwachsen werden, die frühe Desillusionierung und fehlende Sicherheit und der Wunsch nach Begleitung und Führung aus dem inneren Chaos. Und der Chance, im gegenseitigen Erleben neue, positive Erfahrungen zu machen.

So wandelt sich der Song auch musikalisch von schweren Akkordfolgen zu öffnenden Refrain-Harmonien, zieht sich wieder zurück in die Dunkelheit und unternimmt erneut einen Anlauf aufzutauchen.

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Viele Facetten und Spielfreude mit der eigenen Geschichte

Christls Debüt verschränkt an manchen Stellen ihre Musik mit ihrem Buch, wenn Freundinnen und Freunde Auszüge aus „Ich glaub ich hasse mich“ lesen. Es gibt auch beruhigende Momente, wie bei „Cycles“. Eine Klavierballade, in der Christls Stimme an große Soulsängerinnen erinnert und mit einer Wärme und Zärtlichkeit davon singt, den sich immer wiederholenden Kreislauf der eigenen Geschichte durchbrechen zu wollen.

Gerade der Wechsel zwischen deutschsprachigen und englischsprachigen Songs macht dieses Album sehr vielfältig, denn wenn Christl in ihrer Muttersprache singt, dann sind ihre Erlebnisse noch eine Spur unmittelbarer. Der Witz und Humor blitzt bei einem Lied wie „Verstecken“ auf.

Ich suche dich, Du mich nicht.
Du sagt mir nichts
Ich trau mich nicht.
Will in deinen Kopf schauen,
Vielleicht find ich dich dort ja
Du versteckst dich gern immer,
Hinter dir selber

Auch musikalisch ist es ein Versteckspiel zwischen elektronischen Beats und entfernt klingender Pianolinie. Der krönende Abschluss des Albums ist „Ich schwimm“, eine punkige Elektro-Pop-Nummer, die beschreibt, wie man sich als Insel fühlt und die sowohl musikalisch als auch persönlich den Ausblick auf eine neue Zukunft vermuten lässt.

Das ist mein Glücksschrei,
So schrei ich, wenn ich mich freu
Weil jetzt is ja vorbei, oder, oder nicht?
Ahhhhhhhhhh

Christl ist mit all ihrem Output ein Kunststück gelungen, nämlich all die schmerzlichen, traumatischen und schwierigen Erlebnisse ihres Lebens zu transformieren. Indem sie ihre Welt auf diese Weise mit uns teilt, kreiert sie auch in der Öffentlichkeit einen Raum für diese Themen und macht deutlich, dass Kreativität und Kunst ein rettender Raum sein kann.

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