Deine Kultur ist vom Aussterben bedroht?
Eine Kolumne von Todor Ovtcharov
Ich habe mich schon immer gefragt, warum Menschen so gerne sprechen, wenn niemand wirklich zuhört und jeder nur seine Sicht der Dinge vorstellen möchte. In solchen Momenten bleibe ich am liebsten still und höre Sachen, die man mir normalerweise nicht sagen will.
Jetzt zum Beispiel höre ich W, die sich beschwert, dass die Kultur, die sie kannte und mit der sie aufgewachsen ist, vom Aussterben bedroht sei. Ausländer seien daran schuld. Welche Kultur sie wohl meint? Die Kultur Wurst zu essen, Bier zu trinken und laut im Bierzelt zu singen, oder die Kultur ein Schönberg-Konzert zu besuchen. Wie hindern einen Ausländer daran, köstliche Wurst zu essen oder Schönberg zu lauschen? Ich habe beide Events schon besucht und ich habe mich nie als Störenfried empfunden. Wurst war fast immer gut und von Schönberg habe genauso viel verstanden wie alle anderen Konzertbesucher auch, nämlich nichts.
Ein weiterer Rollkragenpulli stimmt W zu. Er meint, in der Donau zu baden sei jetzt wegen der vielen Ausländer unmöglich geworden. Auch das verstehe ich absolut nicht. Hat er Angst, dass ihm Ausländer die Hose stehlen werden? Im Sommer baden an der Donau tausende Mitbürger und es ist schwer zu unterscheiden, wer aus der Steiermark und wer aus Slowenien ist. Die Kinder aller schreien gleich laut. Und die Donau fließt unermüdlich für alle weiter.
Ich kannte mal einen, der im Zentrum von Graz aufgewachsen ist. Seine Kultur bestand darin, die Nase von jedem zu brechen, der ihm nicht gefällt. Wenn diese Kultur vom Aussterben bedroht ist, bin ich gerne auf ihrem Begräbnis.
Kultur ändert sich ständig. Menschen kommunizieren anders und benehmen sich anders den anderen gegenüber. Selbst die Einstellung zu klassischen Kunstformen ist ständig im Wandel. Nicht Unterschiede töten Kultur, sondern Unifizierung. Oder könnt ihr ein Shoppingcenter in Wien von einem in Kuala Lumpur unterscheiden?
Publiziert am 13.03.2024
