„Unleaving“: fühlen und rätseln

„Unleaving“ ist eine wunderschöne Mischung aus Gemälde, Rätselspiel und meditativer Reise ins eigene Ich.

Von David Riegler

Ein Besuch im Museum und das Spielen eines Videospiels haben auf den ersten oberflächlichen Blick nicht viel gemeinsam. Aber ein neues Indie-Game beweist, dass man diese Erfahrungen kombinieren kann und dadurch sogar einen interessanten Blick ins eigene Innere ermöglicht. „Unleaving“ heißt dieses Werk, bei dem man sich durchgehend fragt, ob man gerade ein Gemälde oder ein Spiel vor sich hat. Die Antwort lautet: sowohl als auch.

Physik trifft Kunst

Gleich zu Beginn betrachten wir ein Gemälde, in dem verschiedene Zeichenstile miteinander vermischt werden. Acryl-, Graphit- und Bleistiftzeichnungen ergeben gemeinsam ein Bild von einem Kind mit roten Haaren, das an einer Kante sitzt und in den Abgrund starrt. Ein herunterfallendes Blatt verwandelt sich plötzlich in einen Falter, der von grellem Licht umgeben wird und sofort unsere Aufmerksamkeit bekommt. Wir schlüpfen in die Rolle des Kindes und laufen dem Falter hinterher, der uns zu unseren ersten Aufgaben führt.

Im Kern ist „Unleaving“ ein Puzzlespiel, das uns verschiedene Hürden in den Weg stellt, die wir mit Geschick und Physik lösen müssen. Es kann ein entwurzelter Baum mit kaputtem Baumhaus sein, an dem wir mit einem Seil hochklettern müssen. Oder eine Höhle mit uralten Höhlenmalereien, die plötzlich bröckelt und über uns hereinbricht. All diese Hürden sorgen für knifflige Rätsel, aber sie sind viel mehr als das. Sie erzählen auch eigene Geschichten und Emotionen, denn sie sind Symbole für menschliche Erlebnisse und die innere Gefühlswelt eines Menschen.

Was suchst du?

Als Spieler:in bekommen wir zwischendurch immer wieder zufällige Fragen auf den Bildschirm projiziert. Nach was suchst du? Können Illusionen eine bessere Wahrheit erzählen? Die Antworten darauf findet man nicht im Spiel, sondern im Blick ins eigene Innere. „Unleaving“ lädt uns zur Selbstbeobachtung ein und liefert dafür poetische Sätze, die im Zusammenhang mit dem Sounddesign und der mystischen Bildgestaltung für ein meditatives Erlebnis sorgen.

Der Titel „Unleaving“ stammt aus einem Gedicht von Gerald Manley Hopkins, das Inspiration für das Spiel war: „Spring to Fall: To a Young Child“. Es handelt von der vergänglichen Natur des Lebens, die sich mit der Zeit immer stärker als grundlegendes Motto der Handlung entpuppt.

Die Entwickler:innen beschreiben das Spiel als individuelle Erfahrung, die für jede Person grundlegend anders sei. Denn die Gestaltung und die kleinen Texte dazwischen können ganz unterschiedlich interpretiert werden. „Du sehnst dich nach einer Kerze, die über sich hinaus brennt“ ist ein Gedankenanstoß, der etwas in uns auslösen kann oder auch nur vorbeizieht, je nachdem, wer gerade spielt.

Es ist auch kein Zufall, dass wir in diesem Prozess ein Kind begleiten, denn der kindliche Blick erlaubt es, auch Abstraktes auf eine sehr fantasievolle Weise zu erleben, ohne dass es unlogisch wirkt. Jedes Kapitel hat ein eigenes Thema, das die Stimmung und die Erzählung leitet, was durch die Farb- und Soundgestaltung passend begleitet wird. In unter einer Stunde kann man das Spiel bereits durchspielen, wobei es nicht darum geht, so schnell wie möglich das Ende zu erreichen, sondern darum, was man beim Spielen erlebt und gefühlt hat.

Videospiel als Kunstwerk

Hinter dem Spiel steckt das Ehepaar Sura Karnawi und Saif Jabur, die das Spiel als Herzensprojekt entwickelten und dafür sogar ein Indie-Studio namens orangutan matter gegründet haben. Sie haben sehr persönliche Erfahrungen in dieses Spiel einfließen lassen, zum Beispiel die Vertreibung im Krieg und die Heimatlosigkeit, die Sura Karnawi erlebt hat: „For me, as someone who experienced displacement due to war and worked as a woman in software engineering for years, I experienced a feeling of alienation - you feel like you’re home but not home, if that makes any sense.“

„Unleaving“ ist ein Videospiel und ein Kunstwerk. Es ist eine meditative Reise und ein Rätselspiel. Es macht Freude und lässt einen manchmal ratlos zurück. Die Grenzen sind dabei stets fließend. Aber vor allem ist es eine wunderschöne Erfahrung, denn wer sich auf diese Fantasiereise einlässt, kann zu eigenen, verborgenen Emotionen und Erkenntnissen finden, was eine große Leistung für ein Spiel ist.