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Löten ist auch eine Lösung

Wie das Zusammenleben in digitalen und analogen Welten geregelt wird, steht permanent zur Debatte. Am Crossing Europe Filmfestival reist man mit der Doku „All Creatures Welcome“ an die Urlaubsdestinationen der europäischen Hacker und trifft in „Brexitannia“ desillusionierte Britinnen, die angehört werden wollen.

Von Maria Motter

„Welcome to all life forms!“, begrüßt die Filmemacherin Sandra Trostel das Publikum im Saal des Linzer City-Kino zur Prime-Time. Am Crossing Europe in Linz zeigt sie erstmals ihre neue Dokumentation „All Creatures Welcome“ und zieht die ZuschauerInnen hinein in die Welt der größten Hacker-Community Europas. Bei den Veranstaltungen des Chaos Computer Clubs hat Sandra Trostel seit 2015 gedreht. „All Creatures Welcome“ ist ein rauschender Bilderbogen und ein Wimmelbild, das sich am Sommercamp am Land unweit von Berlin und auf dem nach-weihnachtlichen Kongress in Hamburg abspielt.

Dass die Persönlichkeiten und ihre Einstellungen, die bei Veranstaltungen des Chaos Computer Clubs zusammenkommen, so unterschiedlich wie kontroversiell sind, klärt Sandra Trostel schnell. Ihre Doku hat sie in Kapitel strukturiert, die wie ein niedliches Retro-Game mit Animationen unterteilt sind. Auf dem Areal einer einstigen Ziegelfabrik in Brandenburg treffen sich ein paar Tausend ProgrammiererInnen, ihre Familien und Freunde sind mit dabei zum Campen, analogen wie digitalen Hacken, diskutieren und feiern. Wenn sich bei Musikfestivals tagsüber die meisten vor den Bühnen einfinden, so steht am Chaos Communication Camp ein Zelt für Vorträge bereit, in dem tagsüber streng getaktet Diskurs zelebriert wird. „Be excellent to each other!“ ist ein Leitspruch.

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Die gesamte Infrastruktur dieser Events wird von Freiwilligen getragen. Das System der ehrenamtlichen Helfer probiert Sandra Trostel aus, sie meldet sich als sogenannter „Engel“. Trostels Erkundungen prägt ihr begeisterter Blick auf diese Welt, die für Außenstehende unbekannt erscheint, sich jedoch in der Erzählung schnell erschließt. In kurzen Interviews klären die Sprecher des Chaos Computer Clubs, angefangen von Constanze Kurz und Linus Neumann, und die in der Szene beliebten, weil freundlich-zugänglichen Protagonisten wie der Podcaster Tim Pritlove, worum es ihnen eigentlich geht. Begriffe wie Netzneutralität, Open Culture und die Hacker-Ethik fallen und werden im Schnelldurchlauf geklärt. Es wird gelötet wie nach Lösungen für komplexe, globale Probleme gesucht wird.

Die kindliche Neugier von Hackern, alles verstehen zu wollen, indem man es erstmal auseinander nimmt, wird hier wenig kritisch beleuchtet, doch sehr schön eingefangen und aufgegriffen. Die Kamera ist mitten im Gewühl, bleibt kurz an Schildern mit Hacker-Humor und an DIY-Bastel-und-Bau-Projekten wie einem Nachbau des Berliner Fernsehturms, Stickmaschinen und fahrenden Robotern hängen und erobert sich immer wieder einen Überblick.

Wenn im Abspann der Chorgesang „Heaven can’t wait“ erklingt, sind alle angebotenen Levels durchgespielt. Auf einen Workshop-Aufruf meldeten sich 200 Hacker und studierten mit dem Musiker Thies Mynther - ja, mit Dirk von Lowtzow hat er das Duo Phantom/Ghost - Stücke ein. Digitalisiierung, Klimawandel, der große Freiheitsgedanke - das Streben, die Welt besser zu machen, bleibt als gemeinsames Anliegen aller Nerds hängen. Für tiefere Auseinandersetzuungen mit speziellen Themen wird ein Zuschauer beim Publikumsgespräch auf das Online-Angebot des Chaos Computer Clubs verweisen (Vorträge werden live gestreamt und sind on demand abrufbar).

Die Beschäftigung mit der europäischen Hacker-Community hat sich auch auf Sandra Trostels Arbeiten ausgewirkt. Für sie ist klar, dass sie ihren neuen Film unter Creative Commons bereitstellt und damit die traditionellen Verwertungsvorgaben und -wege von Filmproduktionen verlässt. Selbst im Film nicht verwendetes Material will sie zu nicht-kommerzieller Nutzung anderer zur Verfügung stellen.
Vor einer nahen Zukunft graut Trostel nicht. Wenn die Roboter menschliche Arbeiten übernommen haben werden, wie es Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem kurzweiligen Buch „Arbeitsfrei - Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen“ schon vor fünf Jahren ausführten, stelle sich die Frage der Umverteilung des Geldes.

Wie das menschliche Leben in der Gemeinschaft geregelt sein soll, wird von den Mitgliedern des Chaos Computer Clubs fortwährend verhandelt.

Morgen, Samstag, 28.5., 15.00 Uhr, läuft „All Creatures Welcome“ im Ars Electronica Center. Zuvor um 14.00 Uhr gibt es eine Führung.
Im FM4-Interview mit Petra Erdmann erzählt die Filmemacherin Sandra Trostel, was sie im Zuge ihrer Recherchen noch alles über Hacker gelernt hat.

Wie schrecklich sich Menschen mit Freiheitsbestrebungen verrennen können bzw. wie Ideen pervertiert und ins Gegenteil verdreht werden, davon erzählen dieses Jahr gleich mehrere Filme am Crossing Europe. Zum Beispiel Thierry de Perettis neuer Spielfilm „Une Vie Violente“ („A Violent Life“), der gestern erstmals in Österreich zu sehen war. Erneut ist der Korse auf die Insel seiner Geburt zurückgekehrt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen der mafiösen Familienclans und Banden hatte der Regisseur meisterhaft in „Les Apaches“ anhand einer Gruppe Jugendlicher dargelegt.

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„A Violent Life"

Jetzt zieht das Unglück in Form einer langen Rückblende im Leben einer Hauptfigur in „A Violent Life“ auf: Stéphane hat sich als junger Erwachsener einer Gruppe von Separatisten angeschlossen. Wer hier wen weswegen bekriegt, gerät allerdings zwischendurch unübersichtlich. Ob Schweine tatsächlich neben einer Leiche in Blutlache friedlich fressen würden? Klar ist: Die einst hehren Ziele geraten über kriminelle Machenschaften in Vergessenheit.

Konflikte werden auf öffentlichen Plätzen oder auf dem offenen Felde binnen weniger Sekunden ausgetragen. Feinde werden abgeknallt, mit Benzin übergossen und ihre Fahrzeuge angezündet. „A Violent Life“ erinnert ein wenig an „Gomorrha“. In der Rückschau, ausgerechnet am Kaffeetisch einer Runde von Freundinnen und Müttern erwachsener Söhne, wird die Unausweichlichkeit ungeschriebener Mafia-Gesetze bestätigt. Im letzten Drittel verdichtet sich die Handlung zu einem verstörenden Porträt extremer, totalitärer Haltungen.

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Im Dokumentarfilmbereich gehen die Regisseure von „Montags in Dresden“ („Merkel must go“) und von „Brexitannia“ den radikalen Positionierungen nationaler Gesinnungen nach. In Schwarz/Weiß gehalten und formal sehr geradlinig konzipiert, überrascht „Brexitannia“ von Timothy George Kelly.

Hier nehmen Britinnen und Briten Aufstellung und erklären, weshalb sie mit ihrem Land raus aus der Europäischen Union wollten oder aber für den Verbleib in der europäischen Gemeinschaft stimmten. Dass Landwirte ihre Schafe zweifach taggen müssen ist nur eine Tatsache, die hier direkt die Lebensrealitäten der ProtagonistInnen ins Treffen führt. „Brexitannia“ ist am Montag nochmals am Crossing Europe zu sehen und eine klare Empfehlung.

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