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Aus den Tropen nach Großbritannien

1956 ist Samuel Selvons Roman „Die Taugenichtse“ im Original erschienen. Lesen sollte man es jetzt.

Von Maria Motter

„Don’t ask me where I’m from, ask me where I’m local“ - diese Frage würde mehr Sinn machen, als jemanden nach dessen Herkunft zu fragen, empfehlen Reiseblogs und TED-Talks. Und doch ist das immer nur die halbe Geschichte. Das hat der Autor Samuel Selvon schon in den 1950er Jahren gewusst. Geboren in Trinidad, schreibt er über die Einwanderer nach Großbritannien. Jetzt ist sein Roman „The Lonely Londoners“ auf Deutsch erschienen und aus den einsamen Londonern sind „Die Taugenichtse“ geworden.

Sam Selvon

The Sam Selvon Collection

Sam Selvon

Sechs Jahrzehnte nach der Erstausgabe hat das Werk, das zu den Klassikern der Literatur über Migration zu zählen ist, weder an Aktualität noch an Unterhaltungswert verloren. Die Hauptfigur Moses, der wie der Autor auf der karibischen Insel Trinidad geboren wurde, ist ein Anker für die Neuankömmlinge in London, obwohl er sich selbst mit schwerer Nachtarbeit gerade so durchschlägt. Um den sanftmütigen, aber nicht einfältigen Mann gruppiert Samuel Selvon das Geschehen, das ins Leben anderer MigrantInnen führt. Auf die eine oder andere Art ist jeder von jedem abhängig, hat sich Geld geliehen oder geborgt und als Moses einen Galahad vom Bahnhof Waterloo abholen muss, wird ein Bekannter von der Ankunft dessen kompletter Familie überrascht. Den Familiennachzug hatte er nicht geplant.

„Hoffentlich wird es Ihnen hier nicht zu kalt“, sagt der Reporter spitz.
Und am nächsten Tag, als der Echo erscheint, ist da ein Foto drin, und unter dem Foto steht: Jetzt kommen schon ganze Familien aus Jamaika.“

Die Geschichte der Generation Windrush

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ab 1948, migrierten viele Menschen von den British West Indies, damaligen britischen Kolonien auf den Westindischen Inseln in der Karibik, nach Großbritannien. Sie waren ArbeitsmigrantInnen, die, aus Mitgliedsstaaten des Commonwealth kommend, Anspruch auf die Verleihung der vollen englischen Staatsbürgerrechte hatten. Trinidad war im Zweiten Weltkrieg der größte alliierte Militärstützpunkt in der Karibik, viele Migranten hatten für Großbritannien gekämpft. Aber die gesellschaftliche Anerkennung und Gleichstellung blieb ihnen vielfach verwehrt. Als „Mokkas“ bezeichnen sich die Männer in Selvons Roman selbst, Geschichtsbücher kennen sie als „Windrush Generation“.

Buchcover von Samuel Selvons "Die Taugenichtse"

dtv

Samuel Selvon: Die Taugenichtse, aus dem Englischen übersetzt von Miriam Mandelkow, ist 2017 bei dtv erschienen. Hineinlesen kann man hier.

Nicht missmutig, doch desillusioniert ist Moses, aber für allzu viel Trübsal fehlt es ihm an freier Zeit. Galahad hingegen trotzt dem Wetter Londons und tritt nahezu kindlich unerschrocken und aufgeweckt in sein neues Leben in Großbritannien. Diese Spannung durchzieht ihre Freundschaft.

Der erste Eindruck, dass es sich um naive Literatur handelt, täuscht. Der Autor erzählt im Plauderton vom Versuch, in England Fuß zu fassen und dazu gehören der tägliche Überlebenskampf und auch das Scheitern. Aber Selvon wertet nicht, wenn er von Diskriminierung, Prostitution, Glücksspiel und häuslicher Gewalt erzählt. Damit ist er so manchem zeitgenössischen Autor Meilen voraus.

„Die Taugenichtse“ verfolgt keinen klassischen Handlungsablauf, vielmehr reihen sich Anekdoten wie Songs eines Konzeptalbums aneineinander. Der Sound des Werks muss in der deutschen Übersetzung zwar einiges an seiner Originalität eingebüßt haben, vor allem, was den modifizierten karibischen Dialekt betrifft, von dem man in der deutschen Ausgabe nichts merkt, ist aber von einem flotten, keineswegs flapsigen Stil geprägt.

„Wie kommt es, dass sie zwar murren die ganze Zeit, die Menschen befluchen, die Regierung befluchen, lauter Sachen sagen über dies und das, wie kommt es, dass am Ende keiner richtig sagen will, bei einer Chance würde man zurückgehen zu den grünen Inseln in der Sonne?“

Samuel Selvons Erzählen erinnert an Zadie Smiths "Zähne zeigen“, aber das Debüt, das sich um drei Familien unterschiedlicher Herkunft in London dreht, ist 2000 erschienen.

Wer ihre Romane mag, wird sich über die Wieder-Entdeckung Samuel Selvons freuen.

Wunderbar beschreibt er das unfreiwillige Durch-die-Tage-Driften der Migranten, ihre Beobachtungen und Eindrücke. Etwa, wie Galahad Tee zubereitet - auf das Päckchen, rein ins Wasser - und wie ihn, das „Stoffwechselwunder“, in ewig dünnster Kleidung nicht friert, und die Sonne, weit ferner vom Äquator als in seiner Heimat, einen ungewöhnlichen Anblick bietet: „Außerdem ist das hier ein Wintermorgen, wo so ein Nebel rumschwebt. Die Sonne scheint, aber Galahad hat noch nie eine Sonne gesehen, die so aussieht. Ohne Wärme, einfach nur so am Himmel wie eine frühreife Orange.“

Samuel Selvons „Taugenichtse“ sind nahezu unheimlich aktuell. Der Roman eignet sich hervorragend, um Parallelen zu Großbritannien heute zu ziehen.

„History doesn’t repeat itself, but it does rhyme“.

Dieses Zitat stammt nicht von Selvon, der 1994 in Trinidad starb, sondern wird gern Mark Twain zugeschrieben. Der soll sich in einem unveröffentlichten Manuskript sehr pessimistisch gezeigt haben: “It is not worthwhile to try to keep history from repeating itself, for man’s character will always make the preventing of the repetitions impossible”.

Samuel Selvon erzählt von Momenten, „wo die Gedanken so schwer sind, das er sich gar nicht mehr bewegen kann“, doch wie seine Protagonisten Abende verschlendern, niemals ihren Witz verlieren und sich am Ende seinem fiktiven Alter Ego der Tagtraum aufdrängt, dass in Frankreich alle möglichen Leute Bücher schreiben, die Bestseller werden, ist mehr als eine feine Geschichte auf viel zu kurzen 172 Seiten.

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