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1- und 0-Zeichen als Darstellung eines binären bzw. digitalen Raums

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Der helle, digitale Wahnsinn

Alles, auch jeder Mensch, kann in eine Kombinationen der Zahlen 1 und 0 übersetzt werden. Der amerikanische Autor Joshua Cohen schreibt mit seinem „Buch der Zahlen“ den neusten, klügsten Roman zum Thema digitale Zukunft.

Von Lisa Schneider

Science-Fiction-Filme, in denen eine Zukunft imaginiert worden ist, wo Roboter gemeinsam mit Menschen leben, teils gleichwertig, waren vor dreißig, vierzig Jahren noch gruselig. 2018 stellt sich mit jedem technologischen Fortschritt noch immer die Frage: Wird unser gesamtes Leben bald von künstlicher Intelligenz gesteuert werden?

Die Antwort auf diese Frage liegt nicht nur im Bereich diverser IT-Theoretiker, auch viele zeitgenössische Schriftsteller befassen sich damit. Sie können die Grauzonen der Zukunft mit zusätzlicher Phantasie befeuern. Der aktuellste „Internet-Roman“ stammt vom amerikanischen Schriftsteller Joshua Cohen.

Buchcover "Buch der Zahlen"

Schöffling & CO

„Buch der Zahlen“ von Joshua Cohen ist in der deutschen Übersetzung von Robin Detje im Verlag Schöffling & CO erschienen.

Sein „Buch der Zahlen“ ist soeben in deutscher Übersetzung erschienen, in Amerika wird ihm schon Kultstatus zugeschrieben, die New York Times nennt es den „Ulysses des modernen Zeitalters“.

In gewisser Weise ist es wirklich mit dem Meisterwerk von James Joyce zu vergleichen. Da wäre gleich einmal der monumentale Umfang von 750 Seiten in der deutschen Übersetzung. Anders als Ulysses, der sich allein durchs Leben und dessen Widrigkeiten schlägt, stehen in Joshua Cohens Buch aber zwei Figuren im Mittelpunkt.

Ein Doppelgänger als Ghostwriter

Joshua Cohen, der Protagonist hat also denselben Namen wie der Autor, ist ein gescheiterter Schriftsteller, ein zynischer Humanist, der das Schreiben, den Geruch alter Bücher und Papp-Einbände liebt. Mit den Anschlägen des 11. September gehen alle seine Träume verloren: Die Buchveröffentlichung, in die er alle berufliche Hoffnung gesteckt hat, geht unter im Wahnsinn der Berichterstattung rund um den Ground Zero. Seine Frau Ava verlässt ihn. Da erhält er, desilussioniert und ohne Erwartung an seine weitere Karriere, einen seltsamen Auftrag: ein Internetmogul, der die aktuell erfolgreichste Suchmaschine „Tetration“ erfunden hat, will, dass Joshua Cohen seine Memoiren schreibt. Und dieser CEO heißt ebenfalls Joshua Cohen.

Steve Jobs und alle seine Freunde

So weit, so verwirrend: man liest sich durch das „Buch der Zahlen“ auf drei Ebenen, Joshua Cohen multipliziert sich nicht nur ein-, sondern zweimal. Spannend wird das vor allem in der schrägen Entwicklung der Geschichte: Joshua Cohen, der Schriftsteller, wird nach Dubai eingeflogen, wird eingeführt in die seltsam-ungreifbare Welt des „großen Vorsitzenden“, wie er ihn nennt. Erst spricht er nur via Bildschirm mit ihm, ganz wie man es erwarten könnte, später trifft er das gealterte IT-Genie persönlich, eine buddhistisch inspirierte Mischung aus Bill Gates, Mark Zuckerberg und Steve Jobs.

„Er redete mit mir wie ein Erwachsener mit einem Kleinkind. Wie ein pubertierender Lümmel mit einem brünftigen Haustier. Ob ich die anderen interviewen dürfe? Nein. Persönlich? Nein. Schriftlich? Nein. Darf ich sprechen? Sprich mit der Wand.“

Tiefer und tiefer gerät der Schriftsteller Joshua Cohen hinein in die bizarre Online-Welt seines Namensvetters, eine Welt, die seiner so konträr gegenübersteht. Alles fließt, Daten sind tauschbar, Fakten auch, Menschen, Individuen, sowieso.

„Waren es Menschen? Nicht für den Großen Vorsitzenden. Nicht einmal Angestellte? Sie waren eher Ziffern, Widgets, Ritzel, Rädchen in der Befehlskette. Er schützte seine Privatsphäre, öffnete aber alle Tore zum Leben der anderen. Dem seiner Untergebenen. Samt Unterleib.“

Joshua Cohen

Adam Gong

Joshua Cohen

Joshua Cohen wurde 1980 in New Jersey geboren und hat an der Manhattan School of Music studiert. Er hat mehrere Erzählbände und Romane veröffentlicht. Für seinen neuen Roman „Buch der Zahlen“ hat er das Programmieren erlernt.

Momentan unterrichtet er als Gastprofessor an der Freien Universität Berlin – seine Lese-Tour führt ihn aber auch nach Österreich: am Montag, den 19. Februar liest Joshua Cohen im Literaturhaus Salzburg.

Analog oder digital?

Es ist ein klassisches Doppelgängermotiv: Joshua Cohen gegen Joshua Cohen, zwei verschiedene Persönlichkeiten werden gegeneinander ausgeleuchtet. Das führt nicht nur zurück zum berühmtesten aller Doppelgänger, Dr. Jekyll/Mr. Hyde, sondern erinnert entfernt auch an Thomas Manns Zauberberg: Humanist Settembrini und der totalitäre Naphta streiten sich darin um die Aufmerksamkeit des jungen Hans Castorp – und ähnlich zerrissen fühlt man sich als Leser, folgt man der Ideologie des einen – und des anderen Joshua Cohen.

Weil es aber als dritte Figur auch noch die reale Figur Joshua Cohen gibt, die das Buch geschrieben hat, ist der Wahnsinn perfekt: es scheint, als hätte der Autor sich zweigeteilt und beiden Figuren einen anderen Teil seiner Einstellung zum Thema digitale Zukunft mitgegeben.

Ich erzähl dir, was du hören willst

Das Verschwimmen von Autor und der beiden Charaktere gleichen Namens ineinander hängt direkt mit dem Thema des Buchs, den unendlichen Weiten und Möglichkeiten des Internet zusammen: die Suchmaschine „Tetration“ generiert das, wonach gesucht wird. Informationen generieren sich dadurch selbst - und das ins Unendliche. Dabei geht nicht nur der beanspruchte Wahrheitsgehalt, sondern auch die menschliche Identität verloren

„Die Menschensprachen waren auf Präzision aus, wurden aber immer schwerer übersetzbar. Computersprachen erreichten Präzision UND wurden immer besser übersetzbar. (…) Worum es geht, ist dies: Wir bestehen alle aus den gleichen Einsen und Nullen, in ganz anderer Zusammensetzung.“

Alles ist eins, und alles ist null

Nicht umsonst nennt Joshua Cohen seinen Roman „Buch der Zahlen“: er arbeitet sich ab an 40 Jahren Internetgeschichte, einer einzigen, langen Kombination aus den Zahlen 1 und O. Mit dem Internet hat sich das Leseverhalten verändert, genauso die Wahrnehmung von Realität - und das spürt nicht nur der Autor, sondern alle Joshua Cohens im Buch. Mit galoppierendem Intellekt, Sprachwitz und Wortneuschöpfungen führt Autor Joshua Cohen durch die Seiten, es ist faszinierend und gleichzeitig anstrengend, und auch dieser Schreibstil ist im Endeffekt die Essenz dessen, wie das Internet funktioniert. Information über Information, peng peng peng.

Schließlich ist es eine schöne Ironie, dass der Autor Joshua Cohen seinen Roman, der sich wie das Dahinsurfen auf einem unendlichen Datenstrom anfühlt, auf Papier geschrieben hat.

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