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Portraitfoto Autorin Milena Michiko Flašar

© Helmut Wimmer

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Sinnsuche im Familiensystem

Sind wir für immer in unseren Familienrollen verhaftet? Können wir uns neu erfinden? Und was ist, wenn wir daran scheitern? „Herr Katō spielt Familie“ ist Milena Michiko Flašars Reflexion über Sinnsuche und Glück in Familien.

Von Andreas Gstettner-Brugger

Wir bleiben immer die Kinder unserer Eltern. Ein Spruch, der allgemeine Gültigkeit zu besitzen scheint. Denn kaum ein anderes System ist so prägend wie die eigene Familie. Aber kann man diesen Prägungen entkommen? Kann man seine eigene Rolle neu definieren? Und was verändert sich dadurch im ganzen System?

Das sind Fragen, denen die österreichische Autorin Milena Michiko Flašar in ihrem neuen Buch „Herr Katō spielt Familie“ nachspürt. Nach ihrem großen Erfolg „Ich nannte ihn Krawatte“, das sich über 100.000 Mal verkaufte und auch zu einem Theaterstück geworden ist, siedelt sie ihren neuen Roman wieder in Japan an.

Phantomschmerz Familie

Herr Katō ist frischgebackener Rentner, besitzt ein kleines Haus auf der Anhöhe einer großen Stadt, seine Kinder sind schon ausgezogen und sein Arzt hat ihm gerade beste Gesundheit attestiert. Doch was nun? Was mit der ganzen Zeit anfangen? Der ersehnte Ruhe-Stand wird immer mehr zu einem beklemmenden Zu-Stand.

Buchcover "Herr Katō spielt Familie" von Milena Michiko Flašar

Klaus Wagenbach Verlag

Das neue Buch „Herr Katō spielt Familie“ von Milena Michiko Flašar ist im Klaus Wagenbach Verlag erschienen.

„Und dass er sich glücklich schätzen sollte, Hauptsache gesund, nicht auf die Uhr schauen, nicht seufzen, die Mundwinkel nach oben ziehen. Fast tut es weh, das Lächeln, mit dem er die Praxis verlässt. Ein leichtes Zucken im Gesicht, so in etwa stellt er sich einen Phantomschmerz vor.“

Außerdem steht Herr Katō vor dem Trümmerhaufen einer zweckmäßig geführten Ehe, in der es sich beide in ihrer Unzufriedenheit eingerichtet haben.

„Dass er in seinem Bett lag, daneben die Wand. Er nach einer Bewegung auf der anderen Seite lauscht, aufgrund eines Knarrens genau wusste, seine Frau war noch wach. Er nicht mehr wusste als das. Und dass er sie nicht zu benennen vermochte. Bloß spürte. Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, die das einzige Vertraute war, was sie miteinander verband.“

Vielleicht kann ja die junge Frau ihn von seiner Unzufriedenheit erlösen, die er zufällig am Friedhof getroffen hat. Sie arbeitet für die Agentur „Happy Family“, die Familienmitglieder vermieten. Und so lässt sich Herr Katō mal als Opa, mal als Ex-Mann und als Vorgesetzter buchen, und er ist erstaunlich gut in seinen Rollen. Jedes dieser Spiele hinterlässt Spuren im Inneren des Rentners, und ganz langsam beginnt sich auch in seinem eigenen Familiensystem etwas zu verändern.

Von echten und unechten Familien

Mit klarer und präziser Sprache erzählt Milena Michiko Flašar aus der Sicht eines Menschen, der hart gearbeitet und sich durch ständige Abwesenheit von seiner Familie entfremdet hat. Herausgerissen aus seinem sozialen Arbeitssystem, ist er mit den Auswirkungen dieser Entfremdung konfrontiert. Selbstzweifel, Sinnsuche und die Angst vor Veränderung lassen ihn seiner Frau gegenüber cholerisch werden, die darunter leidet, ihren Mann plötzlich die ganze Zeit zuhause zu haben.

RHS - „Retired Husband Syndrom“ nennt sich diese psychosomatische Erkrankung der Frau, die vor allem von einer japanischen Langzeitstudie genau untersucht worden ist, einer der Inspirationsquellen für Milena Michiko Flašars neuen Roman. Weitere Impulse holte sie sich von den Agenturen, die auch im echten Leben für Auftraggeber das perfekte Familienmitglied vermieten.

Milena Michiko Flašar liest:

Milena Michiko Flašar: „Das Spiel und ineinander verweben von ‚echter‘ und ‚unechter‘ Familie ist das Hauptthema des Buches. Wie beides parallel voneinander abläuft, sich überlagert und man später nicht mehr sagen kann, was ist jetzt wahr und was nicht. Und das ist ja in Familien oft so, dass wir Rollen spielen, die uns gar nicht mehr entsprechen - der Klassiker wäre das Weihnachtsfest, bei dem wir immer wieder in die Rolle des Kindes zurückfallen, das wir schon längst nicht mehr sind.“

Trotz dieser Thematik ist „Herr Katō spielt Familie“ kein tristes Buch, denn Milena Michiko Flašar schreibt so einfühlsam und auch witzig über ihren schrulligen Hauptcharakter, dass man sich immer wieder dabei ertappt, sich mit ihm zu identifizieren. Man lebt mit bei seinen Versuchen, sich ändern zu wollen und hat Verständnis für sein Scheitern, wenn die eingefahrenen Muster einfach zu stark sind.

So ist Flašars Geschichte eine zutiefst menschliche und sehr ehrliche geworden, bei denen keine große Katharsis oder gar Hollywood-Wandlung passiert. Es sind die ganz kleinen, manchmal von außen kaum wahrnehmbaren Veränderungen, die sich auf das Innere ihrer Protagonisten auswirken und so das gewohnte System langsam aufzuweichen beginnen. Und das ist die leise, hoffnungsvolle Stärke dieses außergewöhnlichen Romans.

Milena Michiko Flašar: „Eine meiner Lieblingsszenen ist, wenn die beiden Eheleute einmal kurz Innehalten und gemeinsam durch das Fenster zum Mond schauen. Sie sagen dann gleichzeitig: ‚Schau wie schön!‘ Und das ist so ein Moment, wo kurz Pause von allem ist und auch Glück möglich wird.“

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