FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Ausgebranntes AUto

LOUISA GOULIAMAKI / AFP

buch

Schluss mit dem Erwachsenwerden

Der Roman „Anna“ von Niccolò Ammaniti sticht aus der Masse an postapokalyptischen Erzählungen heraus, mit eindrucksvollen Bildern, originellen Twists und einer sympathischen Protagonistin, die ihr Coming of Age wohl nicht erleben wird.

Von Simon Welebil

„Wie kann man in solchen Zeiten nur ein Kind in die Welt setzen?“, hört man in einer unsicheren, von Bad- und Fake-News geprägten Gegenwart immer öfter. Der italienische Autor Niccolò Ammaniti beantwortet sie in seinem gerade ins Deutsche übersetzten Roman „Anna“ recht einfach: gar nicht.

In „Anna“ sind nämlich all jene, die Kinder bekommen könnten, bereits tot. Ein Virus hat sich von Belgien aus über die Welt verbreitet, an dem in recht kurzer Zeit alle Erwachsenen gestorben sind. Auch die Kinder sind infiziert, ihnen gewährt der Virus allerdings eine Art Aufschub. Erst mit der Geschlechtsreife beginnen sich die roten Flecken zu zeigen, an denen die Menschen schließlich unter starken Schmerzen sterben werden.

Buchcover von Niccolo Ammanitis Roman "Anna"

Eisele Verlag

„Anna“ von Niccolò Ammaniti ist von Luis Ruby übersetzt worden und im Eisele Verlag erschienen.

Niccolò Ammanitis titelgebende Protagonistin Anna ist aus dem postapokalyptischen Chaos, das ihre Heimat, die Insel Sizilien, die letzten vier Jahre im Griff hatte, bisher recht gut davongekommen. Zu verdanken hat sie das auch ihrer Mutter, die eine der wenigen war, die vorausschauend auf den Virus reagiert hatte. Sie hatte sich mit Anna und dem noch etwas jüngeren Sohn Astor zurückgezogen, jede Menge Vorräte angehäuft und ihren Kindern einen Leitfaden fürs Überleben nach ihrem Tod hinterlassen. Doch auch die größten Vorräte gehen einmal zur Neige und mit 13 tickt ihre etwas andere biologische Uhr, die sich Ammaniti einfallen hat lassen, auch schon recht laut.

Klassisches Setting, ungewöhnliche Besetzung

Das Setting in Ammanitis Roman ist klassisch postapokalyptisch. Die Versorgung mit Wasser, Strom und Informationen ist recht bald nach dem Ausbruch der Seuche zusammengebrochen - wie die Gesellschaft als Ganzes. Schon nach vier Jahren gehen Kulturtechniken wie das Lesen, aber auch Sprache prinzipiell langsam verloren. Außerdem haben Brände große Teile Siziliens verwüstet, Geschäfte und Wohnungen, die von den Feuern verschont geblieben sind, wurden geplündert, in den Straßen blieben die Autowracks liegen. Anna muss sprichwörtlich über Leichen gehen, um nach Essbarem zu suchen.

Dadurch, dass dieses Setting nur von Kindern ausgefüllt wird, sticht der Roman heraus. Ihr Horizont und ihre Problemlösungskompetenzen sind begrenzt, ihr Denken und Handeln ist oft kindlich naiv. Mit dem Schwinden der Vorräte wird etwa Schokolade zum Sehnsuchtsgut. Wer sie will, muss dafür Dinge liefern, die wie Batterien oder ein Taschenmesser praktischen Wert haben, oder emotionale Bedürfnisse befriedigen können, die etwa mit den Erinnerungen an die Eltern zusammenhängen.

Kann die einzige „Erwachsene“ der Insel je volljährig werden?

In dieser Welt, in der sich jede/r selbst der/die Nächste ist, sticht Anna schon deshalb heraus, da sie die Einzige ist, die für jemand anders Verantwortung trägt, nämlich für ihren kleinen Bruder. Sie stürzt sich nicht in exzessive Räusche oder setzt ihre Hoffnung in Erlöserfiguren, sondern versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ein halbwegs normales Leben aufrechtzuerhalten. Dass das auf Dauer nicht gelingen kann, ist abzusehen, nur kommt die Zäsur dann doch anders als erwartet.

Niccolò Ammaniti hat mit Anna ein spannendes Gedankenexperiment eingeleitet. Er hat nicht nur eine Welt entworfen, in der Kinder ohne Erwachsene zurechtkommen müssen, er hat den Kindern auch das Erwachsenwerden selbst genommen. Wie alle anderen auch, muss Anna lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihren Platz in der Welt finden.

Dabei macht sie Erfahrungen, die alle Jugendlichen durchmachen, von Freundschaft, erster Liebe und Zurückweisung. Unter den Voraussetzungen, die der Virus im Roman vorgibt, wird sie ihr Coming of Age allerdings nie abschließen können. Wobei Ammaniti die Tür noch nicht ganz zumacht. Vielleicht haben ja außerhalb Siziliens noch irgendwo Große überlebt, die sie retten werden. Und falls nicht, dann helfen vielleicht doch magische Sneakers. Die Hoffnung kann auch einen tödlichen Virus überleben.

mehr Buch:

Aktuell: