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Philipp Weiss

Helmut Lackinger

Die Welt ist ein grotesker Spielplatz

1050 Seiten, fünf Bücher, ein Roman. In einer schnelllebigen Lesewelt wagt Philipp Weiss mit seinem Debüt „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ den großen Wurf. Kann die praktische Umsetzung der ambitionierten Theorie gerecht werden?

Von Lisa Schneider

Es ist sicher mit das größte Highlight im literarischen Herbst: der Wiener Autor Philipp Weiss hat sich sechs Jahre lang zurückgezogen, um sein großes Romandebüt „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ zu schreiben.

Philipp Weiss, 1982 in Wien geboren, hat schon Bücher im Passagen-Verlag und in der Edition Atelier veröffentlicht, er hat auch schon fürs Theater geschrieben. 2009 schließlich tritt er auch beim Bachmannpreis auf - mit einem Text, in dem der Autor seinen Text verspeist, weshalb Philipp Weiss es auf der Klagenfurter Bühne ihm gleich tut.

Das schräge, aktionistische Moment bändigt Philipp Weiss in seinem gerade veröffentlichten, fünfbändigen Roman - zumindest der Form nach.

Philipp Weiss Buchcover

Suhrkamp

„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss erscheint im Suhrkamp Verlag.

„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ ist ein wunderschöner Schuber, der sich - auch ungelesen - einen guten Platz im Regal verdient hat. Die fünf Bände sind unterschiedlich dick, haben unterschiedliche Farben, und sind einzeln auch mit unterschiedlicher Typographie und Illustration versehen.

Die fünf Bücher haben je einen fiktionalen Erzähler. Man kann alle Bände in beliebiger Reihenfolge lesen, der Verlag gibt aber eine „Leseempfehlung“ vor.

Start in Paris, Ende immer in Tokio

Demnach startet man im Jahr 1871 in Paris, die Napoleonischen Kriege wüten, mittendrin lebt Paulette Blanchard. In ihren „Enzyklopädien eines Ich“ schreibt sie tagebuchartig - aber natürlich, wie die Enzyklopädie es will, alphabetisch nach Themen geordnet - über familiäre Repressionen, beengende gesellschaftliche Normen, den Wunsch nach Freiheit, Bildung, vor allem natürlich über die Liebe. Paulette entflieht schließlich Paris, landet in Wien, landet in Japan, wird Forscherin.

Dort überschneidet sich ihre Geschichte mit der ihrer Ururgroßenkelin Chantal Blanchard, der Autorin des zweiten Bandes. Chantal ist Klimaforscherin, obsessiv, verzweifelt, misanthropisch. Sie plant den Bau einer Maschine zur „absoluten Erkenntnis“, und sie selbst will sich futuristischerweise mit ihrem ganzen Sein in eben diese einverleiben. Sich am liebsten auflösen. Von Politik, von Gesellschaftspolitik, hält sie nichts. Pragmatisch demnach heißt ihr Beitrag zum Fünfteiler „Cahiers - Siebtes Heft, November 2010 bis März 2011“. Eine 300 Seiten starke Beobachtung der Welt, voll von wissenschaftlichen Anekdoten, Erlebnissen, Gefühlen, Selbstverdammungen; zwischen Michelangelo, Nietzsche, Einstein,Barthes und Heraklit. Schließlich endet sie in ihrem Pamphlet wider die Menschenrasse: „Zerstört euch“.

Zu jener Zeit, Ende 2010, Anfang 2011 ist Jona Jonas, der Autor des dritten Buchs, auf der Suche nach seiner großen, verwirrenden Liebe Chantal. Jona ist 30, anämisch, androgyn, Künstler. Er reist nach Japan, eine Spur sagt ihm, er wird sie dort finden. Tatsächlich findet er aber die etwas verrückte Abra, die ihm Tokios Schattenseiten zeigen wird.

Abra schließlich ist auch die Protagonistin im letzten und abschließenden Buch, einer Graphic Novel, die ihr Treiben durch das entmenschlichte, höchst technologisierte Tokio schildert. Davor liest man in Band vier, in Akio Ikos „Aufzeichnungen“ die Tonbandtranskriptionen eines neunjährigen japanischen Jungen, der nach der nuklearen Katastrophe von Fukushima 2011 seine Eltern verloren hat.

Mal mehr, mal weniger subtil fließen die Ausmaße besagter Katastrophe in den Roman ein; alle Stränge führen nach, spielen oder enden in Tokio. Auch Wien ist ein Fixpunkt der Geschichten, Paulette lernt ihren ersten Mann auf der Wiener Weltausstellung kennen, Jona lebt dort.

Wissenschaftsgeschichte, Liebeskummer, Overkill

Auch, wenn sich die einzelnen Bände in Textform, Typographie und Erzählperspektive unterscheiden, verbindet sie, dass sie alle aus der totalen Innensicht der jeweiligen Hauptperson erzählt werden. Jede Situation, ob das Napoleonische Frankreich oder das Tokio nach der Katastrophe, erlebt man als LeserIn durch die Augen und Gefühle des jeweiligen Erzählers, der jeweiligen Erzählerin. Das geht manchmal gut, manchmal weniger.

Paulette schreibt etwa in ihren Enzyklopädien: „Wie töricht ich mir vorkommen muss! Wie lächerlich! Es hat ganz offenbar ein Spuk von mir Besitz ergriffen, ein listiges Fieber, dessentwegen ich jedenfalls alle Mühe habe, noch einen anderen Gedanken zu fassen als ebendiesen: Eugene! So laufe ich bereits den ganzen Morgen unruhig im Zimmer auf und ab, wechsle Kleider und Frisuren und Frisuren und Kleider“. Dieser und ähnliche Auszüge klingen wie die manirierte Vorstellung davon, wie eine junge Frau im Paris der 1870er Jahre gedacht haben muss; es fällt schwer, diese „törichte“ Sprache über 300 Seiten durchzuhalten.

Man kann es Paulettes Ururgroßenkelin Chantal, die später eben diese Enzyklopädien ihrer Vorfahrin finden wird, nachfühlen: „Naives Ding! Scheußliches, lächerliches Wesen! Schon zweimal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert vor Scham über diese Einfalt. Sentimentaler, humanistischer Kitsch! Da schwadroniert sie von Freiheit, von Liebe, von Revolution. Mir wird schlecht.“

Chantal selbst ist aber, als Autorin und Buchcharakter, ebenfalls nur schwer zu ertragen. Ihre „Cahiers“, mit denen sie ihren Geist zu trimmen versucht, lösen nicht selten ein beklemmendes Gefühl aus. Der am schwierigsten zu lesende Teil dieses Fünfbänders; und der mit Abstand am schönsten und aufwendigsten illustrierte. Es sind nicht nur Zeichnungen und Sätze, die sich über Doppelseiten erstrecken, sondern auch das Spiel mit der Illustration: Wenn zum Beispiel auf einer reinweißen Seite nur mittig geschrieben steht: „Vorüberziehende Schneefelder“.

Ähnlich holprig wie die Schriften von Paulette liest sich der Text des neunjährigen Akio. Das Unglück in Fukushima wird in den noch naiven Augen des Jungen notgedrungen zur Lächerlichkeit degradiert: „Ich glaube, es war so schwarz wie ein schwarzes Loch, und das ist im Weltall und verschluckt alles, was ihm zu nahe kommt, sogar das Licht und Gefühle und ganze Sterne. Das war sehr traurig.“

Wo die Innensicht am besten funktioniert

Sehr geglückt ist neben der spannend-verrückten Graphic Novel vor allem der Band von Jona Jonas, „Terrain Vague“. Der Liebestrunkene reist nach Tokio. Die wirre, große, volle Stadt, und die Einsamkeit in ihm drinnen: Es ist das Erdbeben, das ihm sein Gehör raubt, wie Chantal ihm beinahe den Verstand geraubt hat. Das alles ist so ergreifend beschrieben, als LeserIn erwischt man sich dabei, neben das eigene Ohr zu klatschen, zu prüfen, ob man doch nicht taub ist. Das Verweben von äußeren Geschehnissen und der sofortigen Reaktion der Innenwelt; und umgekehrt, die aufgewühlte Innenwelt, die sich nach außen stülpt. Ein kleines, naturalistisches Meisterwerk, völliger Subjektivismus, das Ich gegen alle anderen: „Ich setzte mich in eine Bar, direkt ans Fenster, in eine der unteren Etagen, und betrank mich, zweifach, am Alkohol ebenso wie am Anblick der Menschen, die vorüberrauschten, Horden in einem sonderbaren Fieber, eine Masse, die sich in einem mir unbegreiflichen Erregungszustand befand.“

Ein Buch als editorisches Statement

Philipp Weiss schreibt sich durch die Technik-, Wissenschafts- und teilweise Kulturgeschichte der Welt; und über eben diese, ihren Auf- und Niedergang unter der Rasse Mensch. Wegen dieser schier unendlichen Stoffmenge wirken die Erzählstränge wie ewig erweiterbar. Und genau das spiegelt sich auch in der Form des Romans: Es geht nicht um das Nacheinander, sondern um das Nebeneinander von Geschichten. Ähnlich, wie heute Nachrichten, Social Media, so gut wie alles digital lesbare funktioniert.

Deshalb ist der Roman außerdem ein editorisches Statement: viel Aufwand, Material, illustratorische Handarbeit; ein selten schön materialistischer Gegenentwurf zur flachen Datenübermittlung eines E-Books. Schon vor Fertigstellung hat der Suhrkamp-Verlag sich die deutschen, kurz darauf das Pariser Verlagshaus Editions du Seuil die französischen Rechte gesichert. Bei Kosten und Umfang dieses Buchs - allein für die Produktion - ein gewagter Schritt.

Und so lobenswert eben dieses Statement ist, braucht man Biss, die fünf Bände durchzuhalten. Die Theorie überlappt an vielen Stellen den Unterhaltungswert; den man gerade bei einem so umfassenden Roman vielleicht nicht voraussetzt, sich aber wünschen würde. Deshalb hier eine neue Leseempfehlung: Schuber kaufen, ins Regal stellen, und ab und zu eins der Bücher herausziehen, blättern, schmökern, die herrliche Aufmachung genießen. Das Wort „Gesamtkunstwerk“ kommt einem dabei endlich wieder einmal in den Sinn.

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